Die Muße, statt Kurzgeschichten einen Roman in Angriff zu nehmen, findet Vargas Llosa, als er 1958 mit dem Schiff nach Europa übersiedelt. Auf der fast dreiwöchigen Atlantikpassage notiert er sich Skizzen, die er nach der Ankunft in Madrid und später in Paris ausarbeitet – neben seinen Verpflichtungen als Promotionsstudent bzw. den Brotjobs, mit denen er sich in Paris über Wasser hält. Anfang 1962 ist das Werk mit den Arbeitstiteln La morada de héroe (Das Haus des Helden) und Los Impostores (Die Schwindler) fertig.1 Es wird in Spanien mit dem Literaturpreis Biblioteca Breve ausgezeichnet und erscheint, nach Verhandlungen mit der Zensurbehörde, beim Verlag Seix Barral in Barcelona unter dem Titel La ciudad y los perros (Die Stadt und die Hunde). Bald darauf wird es in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt.

Ähnlich wie in der frühen Erzählung Die Anführer haben Ort und Handlung einen engen biographischen Bezug. Vargas Llosa gestaltet seine Zeit in Limas Militärinternat Leoncio Prado und zeichnet eine der Hauptfiguren, den schriftstellernden Kadetten Alberto, nach sich selbst, entzieht ihr aber zugleich einen wichtigen Zug, indem sich Albertos Verhältnis zum Schreiben als rein instrumentell herausstellt. Das eigene Vater-Trauma und die damit verbundene Scheu verpasst Vargas Llosa wiederum einer anderen Hauptfigur, dem als Sklaven beschimpften Kadetten Ricardo, die ansonsten wohl einem Mitschüler namens Alberto Lynch Martínez nachempfunden ist. Auch die dritte Hauptfigur, der am entgegengesetzten, also oberen Ende der Hierarchie stehende Kadett mit dem Spitznamen Jaguar lehnt sich an einen Internatsgenossen namens Estuardo Bolognesi Cedrón an.2 Diese Figur spaltet sich auf: Zunächst lernt sie der Leser als dominanten Kadetten kennen, bevor man mit ihr den eher schüchternen Ich-Erzähler identifiziert, der vor seiner Internatszeit in Teresa, ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, verliebt ist und sie danach heiratet. Diese Seite des ‚Jaguar‘ scheint Vargas Llosa von sich selbst bzw. seine erste Jugendliebe, abgeleitet zu haben. Im Roman haben alle drei Hauptfiguren Teresa zur Freundin. Diese Unwahrscheinlichkeit – besonders im Fall des gewalttätigen Jaguar – verblüfft umso mehr, als dass die Erzählung ansonsten realistisch ist. Der junge Romancier ist selbstbewusst oder eigenmächtig genug, sich nicht um Realismus zu scheren, wenn es um intime Sehnsüchte geht.

Auftürmung der Konflikte

Mit der Kurzgeschichte Die Anführer teilt der Erstlingsroman zudem die Grundkonstellation: Rivalität und Bandenbildung unter Jungen sowie ein Aufbegehren gegen die Schulautorität. Jedoch erzeugt jetzt der Plot viel mehr Spannung, indem die Konflikte sich quasi auftürmen. Es fängt damit an, dass der Kadett Cava im Auftrag von Jaguar ins Unterrichtsgebäude nachts eindringt, um die Aufgaben der anstehende Klassenarbeit vorzeitig in Erfahrung zubringen. Weil er dabei eine Fensterscheibe zerbricht, bemerkt die Schulleitung den Streich und verbietet dem gesamten Jahrgang, am Wochenende die Einrichtung zu verlassen, so lange bis sich der Täter meldet. Ricardo leidet besonders darunter, dass er Tereza nicht sehen kann, und verrät daher, wer es gewesen ist – woraufhin Cava zum Entsetzen seiner Kamaraden der Schule verwiesen wird. In der Mitte des Buchs kommt es zum dramatischen Höhepunkt: Bei einer Feldübung der Kadetten wird Ricardo erschossen. Wer der Schütze war, ob es Mord oder ein Unfall war, bleibt bis zum Ende uneindeutig, auch weil die Militärs sich mehr um das Ansehen der Schule sorgen sind als um die Aufklärung, zumal das Opfer aus der Unterschicht stammt. Mit diesen Gang der Dinge offenbaren sich der Machismus und rassistisch grundierte Klassismus sowie das heuchlerische Rollenspiel3 und die Doppelmoral einer Gesellschaft, in die schließlich auch Alberto und Jaguar nach ihrer Schulzeit als etablierte Mitglieder streben.

Fortführung der narrativen Mittel

Diese inhaltlichen Merkmale waren bereits in den vorherigen Erzählungen, vor allem in Der jüngere Bruder und Sonntag angelegt. Ebenso kehren die formalen, narrativen Mittel wieder: Der Romanerzähler versetzt den Leser unvermittelt in eine spannungsgeladene Situation und bedient sich einer breiten Palette von Sinnesreizungen und Körperempfindungen, äußerer wie innerer Stimmen, Detailwahrnehmungen und ausgreifenden Schilderungen.

„Vier“, sagte der Jaguar.

Die Gesichter entspannten sich im unsichern Schein, den die Glühbirne durch die wenigen noch sauberen Stellen im Raum verbreitete: für die anderen war die Gefahr vorbei, nicht für Porfirio Cava. Die Würfel lagen still, zeigten drei und eins, ihr Weiß stach vom schmutzigen Fußboden ab.

„Vier“, wiederholte der Jaguar, „wer hat vier?“

„Ich“, flüsterte Cava, „ich hab vier.“

„Beeil dich“, drängte der Jaguar. „Du weißt: das zweite von links.“

Cava fröstelte plötzlich. Die fensterlosen Waschräume befanden sich jeweils am Ende der Schlafsäle und waren nur durch die dünne Holztür von ihnen getrennt. In den Jahren vorher war die Winterkälte nur bis zum Schlafsaal vorgedrungen; aber dieses Jahr war sie aggressiv; fast kein Winkel der Schule war vor dem Wind sicher. Er blies sogar bis in die Waschräume, verjagte den tagsüber angesammelten Gestank und vertrieb die laue Wärme. Aber Cava war in der Sierra geboren und aufgewachsen, er war an Kälte gewöhnt. Die Gänsehaut kam von seiner Angst.

„Ist jetzt Schluss? Kann ich schlafen gehen?“ fragte Boa: ein ungewöhnlich großer Körper, eine zu laute Stimme, ein Schopf fettiger Haaren, die vom zu großen Schädel wegstanden, ein winziges Gesicht mit vor Müdigkeit dick verquollenen Augen. Er hatte den Mund offen, von der vorstehenden Unterlippe hing eine Tabakfaser […].

Der Blick auf den Körper, genauer gesagt auf die Körpersprache und körperliche Charakteristika, wie ihn Vargas Llosa in seiner Erzählung Sonntag entwickelt hat und wie er auch in dieser Eingangszene zum Tragen kommt (Gesichtsentspannung, Gänsehaut, Boas Aussehen bishin zum Detail an seiner Lippe), fokussiert sich im weiteren Romanverlauf meist auf den Augenausdruck, das Mienenspiel oder die Hände, wobei die Beschreibungen nicht selten metaphorisch untermalt werden.4 Hinzu kommen, in geringer Dosis, Farbtupfer wie das blaue Haarband von Tereza oder das „makellose Weiß der Képis“, das beim Ausgang der Kadetten die Avenida „wie ein Sturzbach“ überströmt (SuH 61), und zeichenhafte Momente, etwa der „harte, metallische Aufprall“ eines Gewehrs am Morgen des Manövers, das auf das Unglück vorausdeutet (SuH 188) oder die Pfoten mit „grausamen Krallen“, die Alberto an Stuhlbeinen im Offiziersblock erblickt (SuH 298). Letzteres gehört zur Tiermetaphorik, die als Ausdruck von Gewalt den Spitznamen in der Militärakadmie (Jaguar, Boa, Piraña) und nicht zuletzt der titelgebende Bezeichung „Hund“ zugrundeliegt.5 Auch die für die Kurzgeschichte Die Anführer typische impressionistisch-akustische Überschwemmung findet sich in die Stadt und die Hunde, wenn der Kadett Boa einen Sportwettkampf schildert. Ferner weisen die Wortwechsel in der Kadettenanstalt und unter den Jugendlichen in Miraflores Schlagfertigkeit, Ironie und Zynismus auf, wie sie an Figuren aus den Frühwerken Der Verräter und Sonntag erinnern.

Montage oder „kommunizierende Röhren“

Neu dagegen im Vergleich zu den bisherigen Prosastücken ist eine vielfältige Montagetechnik. Vargas Llosa selbst spricht in seinen theoretischen Schriften von ‚kommuzierenden Röhren‘ und erblickt hierin, wie er in einer Vorlesung Ende der 1960er Jahre darlegt, eine von drei Grundtypen, denen man alle Erzähltechniken im Roman zuordnen könne.6 Hierbei geht es darum, Sprechakte oder Handlungseinheiten zu fragmentieren und in anderer Form zusammenzusetzen. Einmal geschieht dies innerhalb von inneren Monologen, etwa wenn Alberto darüber nachsinnt, wie er mit dem Schreiben erotischer Texten begonnen hat, und sich hierbei Erinnerungsfetzen von dem Tag, an dem er vom Ehebruch des Vaters erfährt, untermischen:

[…] „Mist!“, sagte Vallano zerknirscht. „Ich schwör euch, es tut mir entsetzlich leid.“ ‚Da habe ich zu ihm gesagt, für einen Packung Zigaretten schreibe ich dir eine schönere Geschichte als Die Freuden der Eleodora, und an dem Morgen habe ich erfahren, was passiert war, Gedankenübertragung oder die Hand Gottes, ich erfuhr es, und ich fragte, was ist denn mit Papa los, Mammi? Und Vallano sagte, wirklich? Da, nimm Stift und Papier, mögen die Engel dich inspirieren, und sie antwortete, lieber Junge: Mut! Ein großes Mischgeschick hat uns befallen, dein Vater hat sich zugrunde gerichtet, er hat uns verlassen, und da fing ich zu schreiben an […] (SuH S. 151)

Zum anderen kommt es zur Vermengung von innerer und äußerer Rede, beispielsweise als Alberto General Huarina während seiner Nachtwache begegnet:

„Mi teniente, ich möchte Sie um Ihren Rat bitten“, sagt Alberto. ‚Ich könnt ihm ja weismachen, dass ich fast sterb vor Bauchweh, ich könnt ihm schwören, dass ich ein Aspirin oder so was brauch, dass meine Mutter schwer krank zu Haus liegt, dass die Vicuña erschlagen worden ist; ich könnt ihn inständig bitten …‘ „Ich meine, ich brauche Ihren Rat in einer Gewissensangelegenheit.“

„Was sagen Sie?“

„Ich habe ein Problem“, sagt Alberto, immer noch in Habachtstellung. ‚… sagen, mein Vater ist General, Konteradmiral, Feldmarschall, und schwören, dass er für jeden Strafpunkt, den er mir gibt, ein Jahr länger auf Beförderung wird warten müssen. Ich könnt auch sagen …‘ „Es handelt sich um etwas Persönliches.“ Alberto verstummt, zögert einen Augenblick und lügt drauflos: „Der Coronel hat uns gesagt, wir könnten unserer Offiziere jederzeit um Rat fragen. Ich meine, was persönliche Dinge anlangt.“ (SuH S. 16 f.)

Drittens kommt es vor, dass zwei verschiedene Gespräche miteinander verschränkt werden, einmal im Epilog, als der Jaguar seinem Kumpanen Higuieras erzählt, wie er mit Teresa zusammengekommen ist, oder bei Albertos Telefonat in einer Kneipe:

[…] „Teniente Gamboa?“, fragt Alberto. „Pisco de Montesierpe“, behauptet der Schatten, „schlechter Pisco, Pisco Motocachi, guter Pisco.“ – „Am Aparat Wer spricht?“ – „Ein Kadett“, antwortet Alberto. „Ein Kadett des Fünften Jahres. “ – „Die Alte soll hochleben; und meine Freunde auch: hoch!“ – „Was wollen Sie?“ – „Meine Meinung nach des beste Pisco der Welt“, versichert der Schatten; dann verbessert er: „Oder einer der besten, Señor. Pisco Motocachi.“ – „Ihr Name?“ fragt Gamboa. „Ich will zehn Kinder haben. Alles Söhne. Dann nenne ich sie nach meinen Freunden. Nicht nach mir, nur nach euch.“ – „Arana ist umgebracht worden“, sagt Alberto. „Ich weiß, wer’s war. Darf ich zu Ihnen kommen?“ – „Wie heißen Sie?“, fragt Gamboa. „Wollen Sie einen Wal umbringen? Dann geben Sie ihm Pisco Motochachi, Señor.“ – „Kadett Alberto Fernandez, mi teniente. Erste Abteilung. Kann ich kommen?“ – „Kommen Sie auf der Stelle“, antwortet Gamboa. […] (SuH S. 293 f.)

Schließlich ist die Darstellung der Handlungsebene dadurch gekennzeichnet, dass kurze, oft bruchstückhafte Abschnitte aneinander gereiht werden, sodass zeitlich und räumlich voneinander entferne Ereignisse und unterschiedliche Erzählperspektiven (ein neutraler Erzähler, ein Erzähler aus der Perspektive Albertos sowie zwei Ich-Erzähler: der Kadett Boas sowie Jaguar als Kind vor dem Eintritt in die Kadettenanstalt) abwechseln.7

Solche Montagen können im Prinzip zwei Effekte haben: Entweder offenbart sich eine Überstimmung zwischen den kombinierten Elementen und daher ein Sinn, oder es erweist sich ein Kontrast und Widerspruch, und insofern entsteht Spannung. So legt die Verknüpfung von Albertos Erinnerungen an des Vaters Seitensprünge und an die Anfänge seiner obszönen Auftragsprosa den Gedanken nahe, dass die eine Unanständigkeit in Liebesdingen die andere bedingt haben könnte, während die Überblendung von Albertos Gedanken und Worten im Gespräch mit Huarina aufzeigt, wie sehr seine Einbildung und Großspurigkeit von dem, was er wirklich äußert, abweicht. Im Kneipentelefonat wiederum erwächst eine Fallhöhe zwischen dem Anliegen Albertos, die Wahrheit über ein Verbrechens aufzudecken, und der Frivolität einer Feiergesellschaft, zumal auf beiden Ebenen von ‚Umbringen‘ die Rede ist. Die Alteration von Handlungsfragmenten und Erzählstimmen stellt ebenfalls Übereinstimmungen und Kontraste heraus. Einer der effektvollsten Perspektivenwechsel begegnet dem Leser im zweiten Teil Romans. Dort tritt der Vater des im Sterben liegenden Kadetten Arana auf und teilt Alberto in hilfloser Weise seine Sicht der Dinge mit, bevor eine Rückblende anschließt, die von dem Tag handelt, als derselbe Vater dem Sohn stolz eröffnet, ihn auf das Militärinternat zu schicken (SuH S. 217 ff.). Wie hier pendelt die Erzählung zwischen Phasen in den Lebensgeschichten der Kadetten, wodurch der Leser den Zusammengang der Herkunft und insofern die soziale Bedingtheit erkennt. Andererseits zeigen (Ausnahme-)Situationen, dass die Figuren die Wahl hätten, frei zu entscheiden, womit der Roman weltanschaulich zwischen Sozialdeterminismus und Existentialismus changiert. 8

Vielschichtige Situationen

Es sind nicht allein diese Erzähltechniken, die dem Roman eine Doppelbödigkeit und Vielschichtigkeit verleihen. Es liegt auch an der Kunst des Autors, Konstellationen zu schaffen, die inhaltlich doppeldeutig oder vielmehr polyvalent sind und daher den Leser in Unruhe versetzen. Dies geschieht vor allem im Zusammenhang mit der Hauptfigur Alberto, die ja charakterlich zwiespältig ist: hin- und hergerissen zwischen Machoallüren – Gewalt, Betrug, roher Sex – einerseits und aufrichtigen Gefühlen andererseits, oder wie Ricardo über ihn sagt: „ein brutaler Kerl, aber anständig“ (SuH S. 139). Paradebeispiel könnte die Szene sein, als Alberto nach Haus zurückkehrt, nachdem er den Freundschaftsdienst, Ricardos Schwarm Teresa eine Nachricht zu überbringen, dahingehend umfunktioniert hat, kurzerhand selbst das Mädchen ins Kino einzuladen und sich in sie zu vergucken, womit er seine – ohnehin schon vom Vater verlassene – Mutter versetzt.

Seine Mutter sagte kein Wort, blickte ihn nur traurig an. Alberto empfand eine unendliche Gleichgültigkeit.

„Entschuldige, Mama“, sagte er noch einmal. „Sei nicht böse. Ich habe wirklich alles versucht, um wegzukommen; es ging einfach nicht. Und jetzt bin ich müde. Darf ich ins Bett gehen?“

Seine Mutter antwortete nicht. Sie sah ihn nur beleidigt an, und er überlegte: ‚Wie lange wird’s noch dauern?‘ Es dauerte nicht lange: unversehens legte sie die Hände vors Gesicht und fing gleich darauf an, leise zu weinen. Alberto strich ihr über das Haar. Seine Mutter fragte, warum er sie leiden lasse. Er schwor ihr, dass er sie mehr liebe als alles auf der Welt, und sie nannte ihn einen Zyniker, den Sohn seines Vaters. Zwischen Seufzern und Anrufungen Gottes redete sie von Pasteten und Biskuits, die sie im Laden an der Ecke gekauft habe, wie ausgezeichnet sie seien, vom Tee, der auf dem Tisch kalt geworden sei, und von ihrer Einsamkeit und von der Tragödie, die der Herr ihr auferlegt habe, um sie zu prüfen, und von ihrem Opfer. Alberto fuhr ihr mit der Hand durchs Haar und beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen. Dabei dachte er: ‚Wieder ein Wochenende, ohne dass ich zur Pies Dorados gekommen bin.‘

Fragwürdig an Albertos Verhalten ist, dass er seinen Freund Ricardo hintergeht, seiner leidgeprüften Mutter einen zusätzlichen Stich gibt, Mitgefühl heuchelt und zugleich daran denkt, eine Prostituierte zu besuchen. Andererseits spricht für ihn, dass er entgegen seinem Vorurteil oder dem sozialen Ressentiment sich Teresa gegenüber edel verhält und zarte Gefühle für sie entwickelt, weshalb nachvollziehbar ist, dass er einen Kinobesuch mit ihr einer biederen Kaffeemahlzeit mit seiner wehklagenden und frömmelnden Mutter vorzieht. Man kommt insofern auf sechs zum Teil widerstreitende Motive, die hier gleichsam zusammengeschnürt sind und beim Lesen ebenso ambivalente Empfindungen auslösen.

Die andere Figur, in der sich antagonistische Kräfte bündeln, ist der Offizier Gamboa. Sein Kommandoton ist brutaler, sein Umgang mit den Kadetten härter als der anderer Offiziere, aber im Gegensatz zu diesen, die schon körperlich oder stimmlich nicht überzeugen, ist er ein Vorbild an Disziplin und Korrektheit, weshalb er von den Kadetten geschätzt wird. Andererseits relativiert sich der Eindruck aus der Warte seines vorgesetzten Capitan Garrido, der anders als Gamboa echte Kriegserfahrung hat und es „amüsant“ findet, dass dieser die Feldübungen, die dem wirklichen Krieg nicht ähneln, so ernst nimmt (SuH S. 194, 197, 201). Garrido erweist sich als der Erfahrungsklügere, Flexiblere gegenüber dem prinzipienhaften Gamboa und legt ihm, der die Regeln des Militärs auswendig gelernt hat, auseinander, dass die Theorie gut, aber das Leben „praktisch“ sei, nicht die Wirklichkeit müsse sich den Vorschriften, sondern die Vorschriften „der jeweiligen Lage“ anpassen (SuH 363 f). Jedoch ist der Kontext, in dem diese Worte fallen, derart, dass Prinzipienhaftigkeit ethisch angebrachter wäre als ein solcher Pragmatismus: der Tod des Kadetten Arana und die Frage nach dem Schuldigen. Garrido blockiert und verschleiert die Aufklärung, um Schaden vom Militärinternat abzuwenden, Gamboa beruft sich auf sein „Gewissen“ und seine „Pflicht“ und sorgt dafür, dass Alberto seine Version vom tödlichen Schuss vortragen kann. Die Erwartung, Gamboa würde als Mann moralischer Überzeugungen sich dem verstörten und nach Wahrheit strebenden Alberto väterlich annehmen, wird indessen dadurch gebrochen, dass er bald das Interesse an dem Fall zu verlieren scheint und dem Jungen bescheidet: „‚Ich bin nicht Ihr Freund […], auch nicht Ihr Kumpan. Oder Ihr Beschützer. Ich habe nur getan, was meine Pflicht ist.“ (SuH 345). Sein Einsatz wirkt auf einmal nur noch pro forma, pflichtschuldig ohne menschliches Interesse. Dieser Eindruck wiederum wird revidiert, wenn man liest, dass Gamboa in Gedanken an seine hochschwangere Frau ist, also im eigentlichen Sinn Vater wird. Dem schließt sich noch eine Volte an: Er wünscht sich einen Sohn, und als er das Telegramm von der Geburt eines Mädchens erhält, setzt er einen Blick auf, dass der diensthabende Offizier ihn fragt, ob es schlechte Nachrichten gebe.

Diese letzten beiden Kontrapunkte sind besonders effektvoll gestaltet. Es liegt eine beißende Ironie darin, dass der Offizier Gamboa in dem Moment ein Kind erwartet, als es um den Tod eines Jungen geht. Dass er sich nicht freut, weil es eine Tochter ist, eröffnet sich dem Leser nur indirekt, stückweise: Zunächst wird nur Gamboas starre Reaktion auf das Telegramm, aber nicht dessen Inhalt beschrieben. Diesen erfahren wir erst, nachdem der Offizier das in der Hemdtasche verwahrte Telegramm aus Versehen zusammen mit einer Notiz des Kadetten Jaguar herauszieht, zerreißt und wegwirft. Jaguar sammelt die Papierstreifen auf und hält sie zusammen: „Überrascht stellte er fest, dass es zwei Zettel waren, noch einer außer der Heftseite, auf die er geschrieben hatte: ‚Teniente Gamboa: Ich habe den Sklaven getötet. Sie können davon Meldung machen und mich dem Coronel vorführen.‘ Die beiden anderen Hälften waren ein Telegramm: ‚ Vor zwei Stunden Mädchen geboren. Rosa geht es gut. Glückwünsche. Brief folgt. Andres.'“ (SuH 401 f.). Aufs engste, geradezu physisch, werden so Mord und Geburt miteinander verquickt. Die Engführung extremer Gegensätze begegnet in Vargas Llosas weiteren Romanen wieder, wie explosive Mischungen.

Beredtes Verschweigen

Zu Vargas Llosas Repertoire wird auch der hier angewendete Kniff des Erzählers, eine wesentliche Information zu unterschlagen (dato escondido) – eine Kunst, etwas wirkungsvoller werden zu lassen, indem man es gar nicht ausspricht (elliptische Information) oder erst später offenbart (unterschlagene Information durch Umstellung).9 Weil der Telegramminhalt zunächst verborgen bleibt, wird der Leser angestachelt, ihn sich selbst auszumalen, beispielsweise könnte er vermuten, dass es zu einer Fehlgeburt kam. Hier erfolgt die Aufklärung nach wenigen Seiten. Die Frage, ob der Kadett umgebracht wurde und wenn ja von wem, bleibt dagegen dauerhaft unbeantwortet, zumindest wird sie nicht eindeutig beantwortet. Es gibt allerdings eine Szene, in der – wiederum durch vielsagendes Auslassen – eine Richtung vorgegeben wird. Die Generäle thematisieren bei ihrer Unterredung über die Ursachen des tödlichen Schusses zwei Möglichkeiten: entweder hat der Junge beim unglücklichen Sturz auf sein Gewehr die Kugel selbst ausgelöst, oder ein Kamerad aus der Nachhut traf ihn aus Versehen. Der Capitán verwirft die zweite Erklärung mit den Worten: „Ich möchte sogar behaupten, dass der Schluss aus dem Gewehr des Kadetten selbst stammt. Wenn man auf Scheiben zielt, die in einer Höhe von mehrerern Metern über dem Terrain liegen, kann ein Geschoss nicht so sehr abweichen […]“ (SuH S. 262 f.). Hieraus wäre eigentlich der Schluss zu ziehen, dass der Schuss eines Dritten nicht aus Versehen, sondern absichtlich erfolgt sein muss. Genau diese Variante sparen die Gesprächsteilnehmer aber aus, weshalb es an dem Leser ist, den unheilvollen Gedanken selbst zu fassen.

  1. La morada de heroe spielt auf das nach dem Kriegshelden Leoncio Prado benannte Internat an, Los impostores bezieht sich auf das von Sartre stammende Epigraf des Romans. Beide überzeugten den Autor aber nicht, Oviedo, ein Literaturkritiker und ein Freund aus Studentenzeiten, dem Schriftsteller drei andere Titel vor, von denen ihm Die Stadt und die Hunde sofort zusagte. Hierzu José Miguel Oviedo: La ciudad y los perros: 40 años despues. In: Derselbe: Dossier Vargas Llosa, Taurus, Lima: 2007. ↩︎
  2. Hierzu Sergio Vilela Galván: El Cadete Vargas Llosa. 2003. S. 177 ff. ↩︎
  3. Hierzu Sabine Köllman: A companian to Mario Vargas Llosa. S. 95 ↩︎
  4. Beispielsweise: „Der Offizier sieht dem Kadetten prüfend ins Gesicht. Alberto stellt fest, dass die Augen der Kröte auf einmal lebendig geworden sind; die Pupillen, sowie zwei sterbende Sterne umherflatterten, verraten Misstrauen und Verblüffung.“ (SuH 17) – „Der Teniente hält die Arme in die Seite gestemmt. Dann lässt er die Hände sinken; einen Augenblick lang pendeln sie an seinem Körper hin und herr, ehe so unbeweglich herabhängen. Er geht auf das Bataillon zu; sein mageres dunkelbraunes Gesicht ist hart geworden.“ (SuH 41) – „Seine lebhaften Augen rollten wie Stahlkugeln in einem magnetisierten Kreis.“ (SuH 111) – „Alberto stellte überrascht fest, dass jenes andere Gesicht, das er während der letzten Wochen in der Schule so oft heraufbeschworen hat, eine Entschlossenheit besitzt, die das Gesicht jetzt vor ihm gar nicht hat. Es ist das Gesicht, das er im Metro glaubte gesehen zu haben, und dann auf der anderern Seite der Türschwelle, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, ein schüchternes Gesicht mit furchtsamen Augen, die den seinen ausweicht, dessen Lieder sich öffnen und schließen, als fiele die Sommersonne auf sie. Teresa lächelt und ist verlegen. Sie faltet und löst die Hände, lässt sie herabhängen und sucht Halt an der Wand.“ (SuH 164) – „[…] das Mädchen, das er verehrt, ist kokett und spröde: ganz Miraflores hat sich in ihren grünen Augen erblickt, über die der Schatten ihrer langen und seidigen Wimpern fällt […] Der Parque Salazar ist voller Menschen. Sobald sie ihn betreten haben […] bekommen ihre Gesichter einene anderen Ausdruck: ihre Münde öffnen sich leicht, auf den Wangen entstehen Grübchen, ihre Augen funkeln, die Pupillen werden lebendig, und alles ist zusammengefasst in einem diskreten Lächeln, das sich in nichts vom Lächeln derer unterscheidet, die ihnen entgegenkommen […]“ (SuH 233) – „‚Kein Wunder, dass im Fünften Jahr noch solche Unfälle passieren‘, tobte der Coronel und ballte wieder die Faust. Aber es war ein rosige, kleine Faust, die wenig Respekt einflösste.“ (SuH 259) – „Die Stirn des Capitáns war feucht geworden, und in jedem seiner Augen flackerte ein gelbliches Licht. Seine Hände klatschten zorning auf die Schreibtischplatte. Sein Schläfen zuckten. Plötzlich kehrte in seinem Körper alles an seinem Ort zurück. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er dem Blick des Capitáns stand. Gleich darauf sah er, dass der Offizier wegblickte“ (SuH 312). ↩︎
  5. Vgl. Köllmann, S. 92 f. ↩︎
  6. Die anderen beiden sind die Verschachtelung von einer Erzählung in der anderen (‚Chinesische Kästchen‘) und der qualitative Sprung von objekter, realistischer Darstellung in eine subjektive, irreale (‚Häutung‘). MVLL: La novela, 1968. ↩︎
  7. Zur Perspektivenvielfalt und Dialogtechnik José Miguel Oviedo: Mario Vargas llosa: la invecnión de una realidad, S. 124 ff. ↩︎
  8. Vgl. Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Eine Einführung. S. 16 ff. ↩︎
  9. Vgl. entsprechendes Kapitel in MVLL: Briefe an einen jungen Schriftsteller. Suhrkamp 2004. Inspiriert wurde der Peruaner zu diesem narrativen Mittel insbsondere durch Hemmingway. Ansätze gibt es schon in Den Anführern . ↩︎

Das erste Buch von Mario Vargas Llosa besteht aus sechs Geschichten, die er während seiner Studentenzeit in Lima geschrieben hat und mit denen er 1958 den Literaturwettbewerb Leopoldo Alas in Barcelona gewann, woraufhin sie 1959 gedruckt wurden. Die titelgebende mit dem Namen Die Anführer erschien bereits im Februar 1957 im Mecurio Peruano, nachdem sie der junge Autor erfolglos bei einem Erzählwettbewerb der San-Marcos-Universität eingereicht und daraufhin überarbeitet hatte. Danach verfasste er das Stück Die Herausforderung, um gegen Ende 1957 bei einem Literaturwettbewerb der Revue Francaise teilzunehmen und zu gewinnen. Von den anderen vier Erzählungen kennen wir nicht die genaue Entstehungszeit, doch spricht ihre Machart dafür, dass sie Vargas Llosa nach den beiden erstgenannten schrieb. Andererseits relativiert sich die Frage, weil der Autor seine Texte fortlaufend bis zur Veröffentlichung umschrieb.1

Impressionistische Verrätselung

Das Geschehen in der Kurzgeschichte Die Anführer bleibt noch dicht am biographischen Substrat: Der Abschlussjahrgang des Salesianer-Kollegs in Piura versucht einen Schulstreik anzuzetteln, um die Schulleitung dazu zu bringen, Prüfungstermine wieder frühzeitig bekanntzugeben. Nachdem diese nicht einlenkt, erkühnen sich einige Rädelsführer, beim Direktor vorzusprechen – ebenfalls vergeblich. Überlagert wird der Konflikt von der Konkurrenz unter den Pennälern um das beste Ansehen als Anführer. All das hat Vargas Llosa als Schüler erlebt. Den biographischen Bezug sucht er, nachdem ihm bei früheren Texten aufgegangen ist, dass unpersönliche (zeitlose, allgemeine) Themen nicht funktionieren. Die Nähe der Erzählung zum tatsächlich Erlebtem ist zugleich aber ihre Schwäche, denn die Wirklichkeit folgt (wie so oft) keiner Dramaturgie. Der Handlungsbogen ist spannungsarm. Wie um dies zu kompensieren, arbeitet die Erzählung mit Verrätselung, die beim Lesen so etwas wie Spannung erzeugt, die sich durch Auflösung entlädt. Und für die Verrätselung sorgt eine impressionistische Darstellung aus Ich-Perspektive: Aus der stark subjektiven Wiedergabe von Sinneseindrücken erschließt sich auf Anhieb nicht, wo man sich befindet, wer spricht und wer angesprochen wird. Der Anfang lautet so:

Javier war eine Sekunde zu früh.

„Es läutet! “ rief er, schon stehend. Die Spannung entlud sich, heftig, wie eine Explosion. Alle hatten wir uns erhoben: Dr. Abasalo stand der Mund offen. Er wurde rot, ballte die Fäuste. Als er sich wieder gefasst hatte und eine Hand hob und er sich anzuschicken schien, eine Rede vom Stapel zu lassen, läutete es tatsächlich. Wir rannten lärmend hinaus, wie von Sinnen, gehetzt vom Rabengekrächze Amayas, der im Voranstürmen Pulte umwarf. Der Hof wurde von Schreien erschüttert. Die aus der Vierten und Dritten waren eher rausgegangen, sie bildeten einen großen Kreis, der unter dem Staub hin und her wogte. Fast gleichzeitig mit uns kamen die aus dem Ersten und Zweiten in den Hof; sie brachten neue aggressive Sätze mit, mehr Hass. Der Kreis wuchs. Die Empörung war einhellig in der Mittelstufe. (Die Unterstufe hatten einen kleinen Hof mit blauen Mosaiken, am entgegengesetzten Flügel der Schule.)

„Er will uns zur Sau machen, der Indio.“

„Ja, verdammter Mist.“

Keiner sprach von den Schlussexamen. Die funkelnden, Pupillen, das Geschrei, der Aufruhr deuteten darauf hin, dass der Augenblick gekommen war, sich gegen den Direktor zu stellen.2

Wie hier dominieren in vielen Szenen akustische Reize – neben visuellen, die wiederum in wenigen Fällen über sich hinausweisen, also sinnbildlich werden, etwa wenn sich am Himmel ein Unheil abzuzeichnen scheint:

Die Schreie wurden lauter. Aber weder der Takt unserer Schritte noch das anfeuernde Gekreische konnten verbergen, dass uns bange war. Dieses Warten war beängstigend. Warum dauerte es so lange, bis er herauskam? Wir gaben uns noch immer mutig, wiederholten den Ruf, aber jetzt warfen sie einander Blicke zu, und hier und da war lautes forciertes Gekichere zu hören. ‚Ich darf an nichts denken‘, sagte ich zu mir. ‚Jetzt nicht.‘ Das Schreien kostete mich schon Mühe, ich war heiser, mein Hals brannte. Plötzlich, fast unbewusst, blickte ich in den Himmel: Ich verfolgte einen Geier, der sanft über der Schule schwebte, unter einem blauen, makellosen, hohen Gewölbe, erleuchtet von einer gelben Scheibe auf einer Seite, wie ein Leberfleck. Rasch senkte ich den Kopf.3

Plot mit Klimax und tragischer Pointe

Die zweite Kurzgeschichte Die Herausforderung spielt ebenfalls in Piura und zehrt insofern wie Die Anführer von persönlichen Anschauungen des Schriftstellers. Die Handlung jedoch dürfte diesmal im Wesentlichen erfunden sein, und zwar zugunsten eines spannenden Verlaufs: Zwei Männer haben sich zum Messerduell verabredet, begleitet von ihren Kameraden, die den Kampf beobachten und erleben, dass der eine verblutet. Der Plot entspricht einem geradezu klassischen Modell aus Exposition, Klimax und tragischem Ende, bei dem sich herausstellt, dass einer der Begleiter nicht ein Freund als vielmehr der Vater des tödlich Verletzten ist. Eine wesentliche Information vorzuenthalten (oder ganz unterschlagen) wird Vargas Llosa später unter dem Begriff „dato escondido“ in seinen narrativen Werkzeugkasten aufnehmen.

Wie bei der ersten Geschichte wird aus der Ich-Perspektive einer der Freunde erzählt, doch geschieht dies weniger subjektiv und diffus, wie schon der Einstieg zeigt:

Wir tranken gerade Bier, wie jeden Samstag, als Leonidas in der Tür der „Rio Bar“ erschien; an seinem Gesicht bemerkten wir sofort, dass irgend etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte León.

Leonidas zog sich einen Stuhl heran und setze sich zu uns:

„Ich sterbe vor Durst.“

Ich goss ihm ein Glas randvoll ein, und der Schaum floss über auf den Tisch. Leonidas blies langsam und schaute nachdenklich zu, wie die Blasen zerplatzten. Dann trank er das Glas in einem Zug aus.

„Justo wird heute abend kämpfen“, sagte er mit merkwürdiger Stimme.

Schon im ersten Satz wird der Leser über den Handlungsort orientiert und im weiteren wird das Personal verständlich eingeführt. Akustische Impressionen spielen in dieser Erzählung weniger eine Rolle als optische, und diese überschwemmen nicht wie in den Anführern die Schilderung, sondern werden ihr untergeordnet. Man könnte auch sagen: Weil die Handlung spannend ist, bedarf es der Verrätselung nicht mehr.

Eine, zwei, vielleicht drei Sekunden lang hielten wir den Atem an und sahen die Riesengestalt der zwei umklammerten Kämpfer und hörten ein kurzes Geräusch, das erste, das wir während des Kampfes vernahmen, etwas wie ein Rülpsen. Einen Augenblick darauf tauchte an der einen Seite des enormen Schattens ein anderer auf, kleiner und schlanker, der mit zwei Sprüngen wieder eine unsichtbare Mauer zwischen den Kämpfern errichtete. Dieses Mal begann der Hinkefuß zu kreisen. Er bewegte seinen rechten Fuß und zog den linken nach. Ich bemühte mich vergeblich, mit meinen Augen das Halbdunkel zu durchdringen und auf Justos Haut zu lesen, was in diesen drei Sekunden geschehen war, in denen die Gegner, umschlungen wie zwei Liebende, einen einzigen Körper gebildet hatten.

Auffällig ist hier der paradoxe Vergleich der sich hassenden Kämpfer mit einem Liebespaar. Gleichwohl ist auch diese Erzählung sparsam damit, Bilder mit Bedeutung aufzuladen; diese weisen nur selten oder nur schwach über sich hinaus. So könnte man Leonidas‘ Blick auf die zerplatzenden Bierblasen in der Eingangsszene als Vorausdeutung dafür sehen, dass später ein Leben ausgelöscht wird.

Zeichen und Symbole

Die beiden Erzählungen sind also nur in Ansätzen sinnbildlich. Das ändert sich mit der dritten Geschichte Der jüngere Bruder. Sie beginnt so:

Am Wegrand lag ein riesiger Stein, und auf ihm saß eine Kröte; David zielte sorgfältig auf sie.

„Schieß nicht“, sagte Juan.

David ließ die Waffe sinken und schaute seinen Bruder verwundert an.

„Er kann die Schüsse hören“, sagt Juan.

„Spinnst du? Der Wasserfall ist fünfzig Kilometer entfernt.“

„Vielleicht ist er nicht am Wasserfall“, beharrte Juan, „sondern in den Höhlen.“

„Nein“, sagte David. „Außerdem, selbst wenn er da wäre, würde er nie denken, dass wir das sind.“

Die Kröte saß noch immer da, sie atmete ruhig mit ihrem gewaltigen offenen Maul und beobachtete David hinter ihrer Augenbutter mit einem gewissen ungesunden Ausdruck. David hob den Revolver von neuem, zielte lange und schoss.

Sie näherten sich dem Stein. Ein kleiner grüner Fleck verriet die Stelle, an der die Kröte gesessen hatte.

Die Szene ist zeichenhaft, indem sie vorwegnimmt, was später geschieht: Die Brüder werden einen von ihrer Hacienda geflohenen Indio erschießen. Zudem ist hier eine Farbsymbolik angelegt, die sich im späteren Werk Vargas Llosas noch entfalten wird: Das Grün als Zeichen des Urwalds und der indigenen Traditionen im Osten und im Hochland Perus – Gegensatz zu den Gelbtönen der Wüstenregionen an der im geographischen wie übertragenen Sinne westlichen Küste, wo sich Städte wie Piura und Lima befinden. Die Flucht des indigenen Landarbeiters aus dem trockenen Flachland an einen Wasserfall fügt sich in dieses Muster ein. Die Geschichte ist, was ihre Topographie angeht, immer noch biographisch grundiert – eine Baumwoll-Plantage bei Piura lernte Vargas Llosa über seinem Onkel Lucho kennen –, doch dient dies nun dazu dazu, kulturelle und ethnische Gegensätze zu symbolisieren, die wiederum den Rassismus in zerrissenen Gesellschaften wie der peruanischen bedingen.

Wie bei der Herausforderung haben wir es mit einem spannungsgeladenen Plot zu tun, bei dem die Fallhöhe allerdings größer ist: Statt um ein zwar tödliches, aber immerhin einvernehmlich verabredetes Duell geht es nun um Verfolgung und Mord. Dem Höhepunkt folgt wieder eine Überraschung mit tragischem Effekt: Die Brüder bestrafen den Indio, weil er sich angeblich an ihrer Schwester vergangen hat. Als die beiden nach der Tat heimkehren, fleht diese sie an, den Mann in Ruhe zulassen, denn sie hat den Vorwurf nur erfunden. Der ältere Bruder lässt sie im Glauben, dass sie den Verfolgten nicht gefunden hätten (und setzt insofern das Lügen fort), während der jüngere mit den Verhältnissen brechen will. Doch das Pferd, auf dem er sich anschickt den Gutshof in Richtung Stadt zu verlassen, gehorcht ihm nicht und droht ihn, den unerfahrenen Reiter, abzuwerfen. Da erlangt er plötzlich Sicherheit auf dem Ross und wendet es zu einer Hütte, in der Indios gefangen sind, steigt ab und sprengt das Schloss auf. Die Szene, mit der die Geschichte endet, wirkt weniger realistisch als sinnbildlich: ein Exempel dafür, vor dem Unrecht nicht wegzulaufen, sondern etwas dagegen zu unternehmen.

Plastische Monologe und Gesprächsdynamik

Von einem Todeskampf, obgleich nicht im kriminellen Sinne, erzählt auch die Geschichte Sonntag. Protagonist und Antagonist sind zwei junge Männer. Ihr Konflikt entzündet sich dadurch, dass Miguel auf dem Heimweg nach der Filmmatinee Flora (Name eines Mädchens, für das Vargas Llosa als 15-Jähriger geschwärmt) seine Liebe erklärt, aus ihrer Reaktion aber ableitet, dass der Frauenheld Rubén (auch dieser Name ist identisch mit einem realen Person aus dem Freundeskreis) sie ausspannt. Am selben Nachmittag trifft er ihn am Stammtisch seiner Clique und fordert ihn erst zum Litertrinken heraus, bevor Rubén wiederum Miguel zum Wettschwimmen im Meer auffordert. Der Sommer ist vorbei und die Brandung gefährlich. Sie stürzen sich dennoch in die Fluten. Obwohl Miguel unterlegen erscheint und, schwer alkoholisiert, Todesangst im kalten Wasser bekommt, gewinnt er, weil es Rubén noch schlechter ergeht und er ihn retten muss.

Vargas Llosa situiert die Geschichte in Lima-Miraflores und kann ihr damit aus seinen Jugenderlebnissen viel Lokalkolorit verleihen. Er war damals selbst ein passionierter Schwimmer und vermag schon daher, den Kampf mit den Wellen authentisch zu erzählen. Die Geschichte sticht aber nicht nur deswegen hervor. Vergleicht man sie mit der Herausforderung, die ja ebenfalls einen Wettkampf auf Leben und Tod in einem Lebensort des Autors erzählt, fällt auf, dass die Figuren plastischer sind. Und das liegt zum einen an der Qualität innerer Monologe. In den bisherigen Erzählungen sind die Gedanken der Ich-Erzähler hauptsächlich Wiedergabe äußerer Eindrücke. Das ist nun anders. Miguels Gedanken, an denen wir als Leser teilhaben, sind ausformulierte Selbstgespräche, verwoben mit den Regungen seiner Gefühle und Signalen seines Körpers. Die Figur gewinnt an Fülle, weil alle drei Dimensionen – Geist, Leib und Seele – zum Ausdruck kommen, als er sich Flora erklären will oder während er mit den Wellen ringt:

Noch vor wenigen Minuten, in der lebhaften und fröhlichen Menge, die im Parque Central von Miraflores spazierenging, hatte Miguel sich immer wieder gesagt: ‚Jetzt. Wenn wir zur Avenida Pardo kommen. Ich werde es wagen. Oh, Rubén, wenn du wüsstest, wie ich dich hasse!‘ (…) Die Leute blieben im Park und die Avenida Pardo war menschenleer; sie gingen durch die Allee unter den Gummibäumen mit den hohen und dichten Kronen entlang. ‚Ich muss mich beeilen‘, dachte Miguel, ’sonst bin ich verloren.‘ Er sah sich verstohlen um: niemand war zu sehen, er konnte es versuchen. Langsam streckte er seine linke Hand aus, bis er ihre berührte. Dabei merkte er, dass er schwitzte. Er flehte, es möge ein Wunder geschehen, diese Demütigung möge aufhören. ‚Was sage ich zu ihr‘, dachte er. ‚Was sage ich nur?‘4

Er hielt inne, sein Körper sank sofort, bis er vertikal im Wasser hing. Er hob den Kopf und sah, wie Rubén davonschwamm. Er wollte ihn unter irgendeinem Vorwand rufen, ihm zum Beispiel sagen, „warum ruhen wir nicht einen Augenblick aus“, aber er tat es nicht. Die ganze Kälte seines Körpers schien sich in seinen Waden zu konzentrieren. Er fühlte, wie verkrampft die Muskeln waren, die Haut angespannt, das Herz schlug wie wild. Fieberhaft bewegte er die Füße (…) Er sah nur ein kurzes Stück der Wasseroberfläche, grün-schwarz, und eine Mantel aus Wolken über dem Wasser. Da bekam er Angst. Die Erinnerung an all das Bier, das er getrunken hatte, überfiel ihn, und er dachte: ‚Das muss mich ziemlich geschwächt haben.‘ Sofort kam es ihm vor, als verwänden seine Arme und Beine. Er beschloss umzukehren, aber nach einigen Zügen in Richtung auf den Strand drehte er um und schwamm so leicht er konnte. ‚Allein erreiche ich das Ufer nie‘, sagte er sich, ‚ es ist besser, in Rubéns Nähe zu bleiben. Wenn ich nicht mehr kann, sage ich ihm: Du hast gewonnen, aber lass uns umkehren.‘5

Auch die Dialoge und Gespräche haben eine bessere Qualität als in den bisherigen Erzählungen, in denen sich die Äußerungen zwischen den Figuren meist auf lakonische Wortwechsel beschränken. Nun erleben wir, insbesondere beim Beisammensein in der Kneipe, ein verbales Zuspiel, das die Handlung vorantreibt und die Charaktere hervortreten lässt. Unter den Jungen sind Provokation und Prahlerei angesagt: Machotum im Wortgefecht.

„Der ist überhaupt kein Champion“, sagte Miguel mühsam. „Das ist alles nur Pose.“

„Du bist doch schon hin“, sagte Rubén. „Soll ich dich nach Hause bringen, Kleines?“

„Ich bin nicht betrunken“, versicherte Miguel. „Und bei dir ist alles reine Pose.“

„Du bist doch nur wütend, weil ich Flora aufs Kreuz legen werde“, sagte Rubén. „Du stirbst fast vor Eifersucht. Denkst du, ich hätte nichts bemerkt?“

„Reine Pose“, sagte Miguel. „Du hast gewonnen, weil dein Vater Verbandspräsident ist, alle wissen, dass er gemogelt hat, dass er das Kaninchen Villarán disqualifiziert hat, nur darum hast du gewonnen.“

„Jedenfalls schwimme ich besser als jeder andere“, sagt Rubén. „Du kannst ja nicht einmal Wellenreiten.“

„Du schwimmst nicht besser als jeder andere“, sagte Miguel. „Jeder kann dich besiegen.“

„Jeder“, sagte Melanés. „Sogar Miguel, und der ist ein Stümper.“

„Erlaubt mir, dass ich grinse“, sagte Rubén.

„Wir erlauben es dir“, sagte Tobias. „Aber klar doch.“

„Ihr seid mir über, weil Winter ist“, sagte Rubén. „Sonst würde ich euch auffordern, mit mir an den Strand zu gehen, und dann würden wir sehen, ob ihr im Wasser auch so mutig seid.“

„Du hast den Wettbewerb nur wegen deines Vaters gewonnen“, sagte Miguel. „Bei dir ist alles reine Pose. Wenn du mit mir schwimmen willst, sag Bescheid, ohne jede Rücksichtnahme. Am Strand, beim Club Terrazas, wo du willst.“

„Am Strand“, sagte Rubén. „Jetzt, sofort.“

„Alles reine Pose“, sagte Miguel.

Rubéns Gesicht leuchtete plötzlich auf, und seine Augen wurden nicht nur rachsüchtig, sondern auch arrogant. (…)

„Raubvögel“, sagte Rubén und breitete die Arme aus, „ich fordere ihn heraus.“ 6

Ironie und Zynismus

In dem Erzählband folgt das Stück Ein Besucher, das nicht nur mit Blick auf sein Milieu, nämlich dem Eintreffen eines Ex-Häftlings namens Jamaiquino in eine verlassene Schenke in den Sanddünen, an die früheren Geschichten aus Piura erinnert. Sie entbehrt zudem eines Blicks ins Figureninnere, und die Dialoge sind wie zuvor sparsam. Rhetorisch entwickeln sie sich jedoch weiter, indem sich die Ironie verstärkt und zum Zynismus steigert. Der Ankömmling an der Schenke sagt:

„Danke, Señora Merceditas. Sie sind sehr gütig. Wie immer. Wollen Sie mich nicht begleiten?“

„Wozu?“ Die Frau betrachtet ihn argwöhnisch; sie ist dick und nicht mehr die jüngste, aber ihre Haut ist glatt; sie geht barfuß. „Du kennst den Ausschank ja.“

„Ach“, sagt der Mann in freundlichem Ton. „Ich esse nicht gern allein. Das macht traurig.“

Die Frau zögert einen Augenblick. Dann geht sie mit schlurfenden Schritten durch den Sand auf den Ausschank zu. Sie geht hinein. Sie öffnet eine Bierflasche.

„Danke, vielen Dank, Señora Merceditas. Aber ich möchte liebe Milch. Da Sie die Flasche nun mal aufgemacht haben, warum trinken Sie sie nicht?“

„Ich hab‘ keine Lust.“

„Kommen Sie, Señora Merceditas, seien Sie doch nicht so. Trinken Sie sie auf mein Wohl.“

„Ich will nicht.“

Die Miene des Mannes wird ärgerlich.

„Sind Sie taub?“ Ich habe gesagt, Sie sollen dieses Bier trinken. Prost!“

Die Frau hebt die Flasche mit den Händen und trinkt langsamen, mit kleinen Schlucken.

(…) Der Mann sagt immer wieder „Prost!“, bis vier leere Flaschen auf der Theke stehen. Die Frau hat glasige Augen; sie rülpst, spukt aus, setzt sich auf einen Obstsack.

„Mein Gott“, sagt der Mann. „Was für eine Frau! Sie sind eine kleine Säuferin, Señora Merceditas. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das sage.“7

Auch diese Geschichte endet mit einer Pointe, die man wiederum ironisch nennen kann: Der die ganze Zeit über dominant agierende Jamaiquino wird selbst hereingelegt und von der Polizei, der er einen Kumpanen zugeführt hat, mit einer zynischen Bemerkung in der Wüste zurückgelassen, wo er der Rache anderer anheimfallen wird.

„Hören Sie, Leutnant, und wer nimmt mich mit?“

„Dich?“ sagt der Leutnant, mit einem Fuß im Steigbügel. „Dich?“

„Ja“, sagt der Jamaiquino. „Wen sonst?“

„Du bist frei“, sagt der Leutnant. „Du brauchst nicht mit uns zu kommen. Du kannst gehen, wohin du willst.“

Lituma und die anderen Gendarmen lachen, auf den Pferden sitzend.8

Der hier fallende Polizistenname wird dem Leser in Vargas Llosas späteren Romanen wieder begegnen.

Dämonen

Die Schlussgeschichte dieses Bandes ist die kürzeste. Das sich durch die Erzählungen ziehende Todesthema erscheint hier einerseits faktisch harmloser, andererseits psychologisch abgründiger. Ein alter Mann poliert einen am Straßenrand entdeckten Totenkopf und postiert diesen zusammen mit einer brennenden Kerze im Garten (wobei der Schädel Feuer fängt), um seinen in der Abenddämmerung herumtollenden Enkel zu erschrecken. Warum er das tut bleibt dunkel: Den Plan fasst der Großvater, als er sich beim Anblick eines leeres Taubenschlags daran erinnert, wie ihm früher die Jungvögel aus der Hand fraßen und die Augen verdrehten, wenn er plötzlich zudrückte. Der Einfall, dem Enkelkind mit einem Totenkopf Angst einzujagen, ist daher nicht nur für sich genommen dämonisch, sondern auch was seine Ursache angeht: eine Wahnidee infolge einer tiefsitzenden Prägung. Für Vargas Llosa sind Dämonen im Sinne seelischer Obsessionen wesentlicher Antrieb für das Schaffen von Literatur. Insofern könnte man in dieser Kurzgeschichte eine Metapher fürs Schriftstellertum erblicken: der Großvater, welcher aus dem Schatten des Gartens die Familie seines Sohnes beobachtet und einen Dämon mit sich trägt, entspräche dem Poeten als einem Sonderling am Rande des bürgerlichen Lebens. Diese Deutung des entflammten Schädels würde auch zu Vargas Llosas berühmt gewordenem Ausruf: Literatur ist Feuer! passen. Eine gegenteilige Interpretation wäre indes, den Alten als Vertreter des Establishments zu sehen (hierfür spricht seine Mitgliedschaft im Herrenclub)9 und dass sich hier ein Muster aus den vorangegangen Geschichten fortsetzt: die Konstellation aus Anführer und Gefolge, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Brüder.10 Angeregt ist die Geschichte von Schauerliteratur des Autors Paul Bowles, die Vargas Llosa in einer Phase seiner Studentenzeit in Lima las, als er sich mit Freunden zu Geisterbeschwörungen traf oder nachts auf dem Friedhof von Surco Edgar Alan Poe huldigt.11

Malerisches Erzählen

Ungeachtet ihres (möglicherweise) sinnbildlichen Charakters ist die Begebenheit realistisch erzählt. Beim Einstieg werden fast alle Register der Sinneswahrnehmung – Hören, Sehen, Riechen, taktiles Empfinden – gezogen, ohne dass sich wie bei den anderen Stücken ein impressionistisches Durcheinander ergibt:

Jedesmal, wenn ein Zweig raschelte oder ein Frosch quakte oder die Fensterscheiben der Küche im hinteren Teil des Gartens vibrierten, erhob sich der kleine Alte behende von seinem improvisierten Sitz, einem flachen Stein, und spähte erwartungsvoll durch das Blattwerk. Aber der Junge kam noch nicht. Durch die Fenster des Esszimmers, die sich zur Pergola hin öffneten, sah er hingegen die Lichter des seit einer Weile brennenden Kronleuchters und darunter verschwommene Schatten, die hin und her glitten, hinter den Vorhängen, langsam. (…) Er kehrte zu seinem Sitz zurück und wartete. In der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und der Erde und den Blumen entstieg ein angenehmer Geruch nach Feuchtigkeit. Aber die Insekten wimmelten, und Don Eulogios verzweifeltes Herumfuchteln um sein Gesicht vermochte sie nicht zu verjagen. Auf sein zitterndes Kinn, seine Stirn und sogar auf die Wölbungen seiner Augenlider trafen jeden Augenblick unsichtbare Stachel und stachen ihm ins Fleisch. Die Begeisterung und die Erregung, die seinen Körper während des Tages in fieberhafter Bereitschaft gehalten hatten, waren schwächer geworden und jetzt empfand er Müdigkeit und leichte Traurigkeit (…) Von nervösem Zittern geschüttelt, wandte er den Kopf und erriet zwischen den Beeten mit Chryanthemen, Narden und Rosenstöcken den winzigen Pfad, der unter Umgehung des Taubenschlags zur hinteren Pforte führte.12

Vargas Llosa hat mit diesem sensualistischen, malerischen Erzählen einen Modus gefunden, von dem seine folgenden Romane profitieren werden. Sie führen die in diesem Prosaband angelegten Motive und Formen fort – Rivalität, Machtgefälle und Machotum, Lüge und Zynismus, Rassismus, Liebesleid sowie impressionistische Szenen oder der Aufschub wesentlicher Informationen mit pointenhafter Auflösung. Auch die von Vargas Llosa als „kommunizierende Röhren“ bezeichnete Verschränkung wörtlicher Rede unterschiedlicher Herkunft ist bei den frühen Erzählungen im Ansatz vorhanden.13 Dasselbe gilt für die Figurenebene, auf der sich für das Romanwerk typische Gegensatzpaare aus Verräter und Freund, Anführer und Mitläufer, Etablierter und Außenseiter abzeichnen. 14

  1. José Miguel Oviedo: Mario Vargas Llosas. Invencion de una realidad. Seix Barral, 1982. S. 70 ff. Auch nach der Erstausgabe wurden Änderungen vorgenommnen, etwa an den Titeln der Geschichten, und das ursprünglich nicht enthalte Stück „Der Großvater“ kam hinzu (s. dort S. 85 f.) Letzters erschien zuvor in der Sonntagsbeilage von El Comercio im Dezember 1956 (s. dort S. 26). ↩︎
  2. Mario Vargas Llosa: Die Anführer. Erzählungen. Übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp, 1995. S. 7 (AN). ↩︎
  3. Ebenda S. S. 9 f. ↩︎
  4. Ebenda S. 76 f. ↩︎
  5. Ebenda. S. 97 f. ↩︎
  6. Ebenda S. 87 f. ↩︎
  7. Ebenda S. 105 ff. ↩︎
  8. Ebenda S. 115. ↩︎
  9. Vgl. Ovideo, 1982, S. 89. ↩︎
  10. Vgl. Sabine Köllmann: A companion to Mario Vargas Llosa. Tamesis, 2014, S. 84. ↩︎
  11. MVLL im Vorwort zur englischen Ausgabe seiner Erzählsammmung: The Cubs an Other Stories, S. XV f. ↩︎
  12. AN S. 117 f. ↩︎
  13. Und zwar, wenn in der Heraussforderung Justo seinen Freunden vom vorangegangen Gespräch mit seinem Kontrahenten erzählt. ↩︎
  14. Vgl. Köllmann, 2014, S. 85. ↩︎

Mario Vargas Llosa gehört zu jener Generation und Sorte von Schriftstellern, denen Literatur mehr ist als Bespiegelung privater bzw. beliebiger Phänomene, sondern Anwältin allgemein wichtiger Anliegen. Das zeigt auch sein achtzehnter Roman „Cinco esquinas“ mit dem deutschen Titel „Die Enthüllung“.