Sein drittes Prosawerk beginnt Vargas Llosa noch in Paris im Sommer 1965, um es Ende 1966 in London abzuschließen. Los cachorros (Die jungen Hunde) erscheint sodann in einer mit Fotografien von Xavier Miserachs versehenen Ausgabe bei Lumen in Barcelona, wobei der ursprünglich beabsichtigte Name Pichula Cuéllar (Schwanz Cuéllar) in den Untertitel verbannt wird. Schauplatz und Konflikte dieser im Zeitraffer erzählten Lebensgeschichte sind aus dem Erstlingsroman wohlbekannt: das Aufwachsen von Jungen in Lima-Miraflores in einer gutbürgerlichen Welt, wie sie Vargas Llosa von seinem zehnten Lebensjahr an erlebt hat. Anstoß für die Geschichte ist indes ein Vorfall, von dem der Autor nur aus der Zeitung erfuhr: die Kastration eines Neugeborenen in den Anden durch einen Hund. Seither habe er geträumt von einer Erzählung über eine solche seltsame Wunde, die sich im Gegensatz zu anderen mit der Zeit nicht schließt, sondern weitet, so der Schriftsteller im Vorwort einer späteren Ausgabe. Um die literarische Idee zu verwirklichen, verpflanzt er sie ins Milieu seiner späten Kindheit und Jugend. Allerdings kommt ein biographischer Bezug noch hinzu: Zu den wenigen Schocks seiner Frühkindheit in Bolivien gehört, dass eines Tages die dänische Dogge eines Nachbarn sich von der Kette gelöst hatte und ihm den Hosenboden zerriss. In der Novelle ist es ein Hund derselben Rasse, der im Hof einer Grundschule im Zwinger gehalten wird, doch es einmal schafft, die Kinder bis in die Duschräume zu verfolgen und einem von ihnen den Penis zu zerbeißen.

Cuéllar, dem dies widerfährt, nimmt von da an eine andere Entwicklung als seine Klassenkameraden, wobei er als Zugezogener (auch dies ist eine Parallele zu Vargas Llosas eigener Situation mit zehn, elf Jahren) und Sohn eines einflussreichen Mannes schon vorher eine Sonderstellung hatte. Zunächst ist es Faulheit in der Schule, später kommen Verklemmtheit gegenüber Mädchen, Imponiergehabe und Exzesse wie die zum Tode führende Raserei mit Autos hinzu. Bemerkenswerter Weise überdauert Cuéllars Freundschaft mit den Sitznachbarn seiner Grundschulzeit – Choto, Chingolo, Mañuco und Lalo – die Wandlungen von Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden, obwohl sich seine Eskapaden aufschaukeln. Erst in der Endphase kommt es zum Bruch, als die Freunde heiraten und ihre Verbürgerlichung quasi besiegeln. Zuvor versuchen sie, ihm zu helfen, sich normal zu sozialisieren, und das heißt, eine Freundin zu haben und das Leben zu genießen.

Die Freundschaft und weiter gefasst die Gemeinschaft des Stadtviertels ist denn auch der zweite Beweggrund für dieses Prosastück. Er habe über das barrio schreiben wollen, seinen Charakter, seine Mythen, erklärt Vargas Llosa, und sich entschieden, dass es diese kollektive Instanz sein soll, die die Geschichte erzählt. Er versucht daher die Erzählstimme wie einen Chor zu gestalten, in dem zuweilen Einzelne hervortreten und dann wieder die Gesamtheit zu hören ist,1 und den Text so, dass er eher zu singen als zu lesen sei, weshalb er jede Silbe ebenso sehr nach musikalischen wie narrativen Kriterien ausgewählt habe. Kein anderes Prosawerk Vargas Llosa ist daher so durchgestaltet wie dieses. Zur akustischen Qualität tragen häufige, mitunter lautmalerische Interjektionen bei sowie die Rhythmisierung der Sprache durch Wortwiederholungen, Asyndeta und Parataxen, während der übergangslose Wechsel (also ohne entsprechende Satzzeichen und Inquit-Formeln) zwischen dritter und erster Person, Beschreibung und Figurenrede die Erzählerinstanz verwischt und in einer mehrstimmigen, insofern chorischen, Darbietung aufgehen lässt:

Noch trugen sie kurze Hosen in dem Jahr, noch rauchten wir nicht, Fußball war ihr Lieblingssport, Wellenreiten lernten wir gerade und den Hechtsprung vom Dreimeterbrett im Terrazas, sie waren übermütig, glatthäutig, neugierig, flink, unbändig. In dem Jahr, als Cuéllar an die Champagnat-Schule kam.

Stimmt’s dass ein Neuer kommt, Frater Leoncido?, in die Drei A, Frater? Ja, Frater Leonacido wischte sich die Tolle aus dem Gesicht, Ruhe jetzt.

Eines Morgens kam er, wir waren gerade angetreten, an der Hand seines Papas, und Frater Lucio stellte ihn ans Kopfende der Reihe, weil er noch kleiner war als Rojas, und im Klassenzimmer setzte ihn Frater Leoncio nach hinten zu uns, hier ans freie Pult, junger Mann. Wie hieß er? Cuéllar, und du? Choto, und du? Chingolo, und du? Mañuco, und du? Lalo. Hier aus Miraflores? Ja, seit letztem Monat, vorher habe er in San Antonio gewohnt und jetzt in der Mariscal Castilla, beim Kino Colina.

Die Montage von Sprechakten und Handlungselementen, das Changieren der Erzählperspektive, wie er sie in den Vorgängerromanen entwickelt, setzt Vargas Llosa hier auf noch engerem Raum, nämlich innerhalb von Sätzen oder zwischen kurzen Phrasen, ein. Auf die Montage auf Makroebene, also das Durchbrechen der Cronologie in der Szenenfolge oder Sprünge zwischen Orten verzichtet er hingegen. Als mikrostrukturelles Oszillieren kann die Erzählweise ihre Wirkung entfalten, ohne die Verständlichkeit zu erschweren, auch dann, wenn sie dahingehend gesteigert wird, dass die Firgurenrede mit beschreibenden Wörten quasi durchlöchert wird und dadurch ein verbal-visuelles Amalgam entsteht, wie bei diesem Flirt zwischen Cuéllar und Teresita:

Er verkündete, dass er studieren wolle: nächstes Jahr schreibe er sich an der Católica ein, und sie, affektiert, wie herrlich, für welchen Beruf?, sie stellte ihre weißen Händchen zur Schau, Anwalt, ihre drallen Fingerchen, ihre langen Nägel, Anwalt?, uiuiui, wie scheußlich!, von Klarlack glänzend, düstere Miene, und er, aber nicht, um so ein Winkeladvokat zu werden, nein, fürs Außenamt, die Torre Tagle, um Diplomat zu werden, helle Freude, Händchen, Augen, Wimpern, und er, ja, der Minister sei ein Freund seines Vaters, der habe schon mit ihm geredet, Diplomat?, Mündchen, uiuiui, wie schön!, und er schmolz dahin, verzehrte sich, natürlich, da sehe man was von der Welt, und sie, ja und eine Party nach der andern: Äuglein.

Dass Cuellár sich in diese Gemeinschaft nicht integrieren kann, liegt nicht nur an seiner körperlich-sexuellen Beschädigung, sondern auch an seelischen, in der Clique negierten, Bedürfnissen. Als seine Freunde ihn auffordern, sich Teresita zu erklären, und falls sie ihm später nicht mehr gefallen sollte, sie durch eine andere Freundin zu ersetzen, entgegnet er, dass ihm diese Sicht widerstrebe, denn er liebe sie wirklich. Während sich hier seine Opposition gegen den banalen Hedonismus und Machismus nur kurz andeutet, wird sie später, nachdem er mit seinen Kumpanen ein Bordell besucht hat, deutlicher: Cuéllar bekommt einen Weinkrampf, und die anderen bedrängen ihn:

nun rück schon raus damit, was sei geschehen, und er, nichts, verdammt, man dürrfe doch mal taurig werden, und sie, weshalb denn, wo das Leben doch ein Jux sei, Kumpel, und er, über so allerlei, und Mañuco, zum Beispiel?, und er, zum Beispiel, dass die Menschen ständig Gott beleidigten, und Lalo, bitte was?, und Choto, er meine sie würden so viel sündigen?, und er, ja zum Beispiel bescheuert, was?, ja, und auch, weil das Leben so erbärmlich sei. Und Chingolo, was heißt erbärmlich, Mann, ein Jux war’s, und er, weil man nichts andres tue, als arbeiten, saufen oder einen draufmachen, jeden Tag das Gleiche, und plötzlich werde man alt und strebe, das sei doch Scheiße, oder?, ja. Darüber habe er bei Nanette nachgedacht?, vor den Nutten?, ja, deshalb habe er geweint?, ja, und aus Mitleid für alle Bedürftigen, die Blinden, die Lahmen, für die Bettler, die am Jirón de la Unión um Almosen baten, und für die Zeitungsjungen, die La Cronica anboten, dumm nicht?, und für die armen Teufel, die einem auf der Plaza San Martín die Schuhe putzen, blöd was?, und wir, na klar, saudumm, aber jetzt habe er sich wieder gefangen, nicht? klar, habe es vergessen?, natürlich, dann lach mal, damit wir es glauben, haha. Fahr zu Pichulita, gib Gas, dreh auf, wie spät war es, wann begann die Show, wer wisse das, ob noch immer die Mulattin aus Kuba da war?, wie hieß die noch?, Ana, wie wurde sie genannt?, die Caimana, na los, Pichulita, zeig uns, dass du drüber weg bist, lach noch mal: haha.

Die Gruppensolidarität wird zum Gruppenzwang, hier sinnfällig im Lachzwang. Das Lachen drückt dabei keinen entspannten Humor aus, sondern eine aggressive, oberflächliche Haltung, das Leben als „Jux“ nehmen und „aufzudrehen“.2 Der leichtlebige Konformismus erweist sich als die Kehrseite des „barrio“, der Freundschaft und der bürgerlichen Gemeinschaft, was am Novellenschluss auf die Spitze getrieben wird, wenn der Unfalltod Cuellars zur Kleinigkeit im Nebensatz degradiert wird und Ehefrauen und Kinder als Statussymbole auf einer Stufe mit Autos stehen. Sprachlich untermalt wird die bürgerliche Banalität durch den häufigen Gebrauch von Diminutiven, welche nicht nur dem tatsächlichen Stil des peruanischen Spanisch entsprechen, sondern auch einer Haltung, die Dinge für kleiner und somit unbedeutender zu erachten, als sie sind.3

Die Oberflächlichkeit und Vergnügungssucht sind zwar mit der Männerwelt verknüpft, doch keineswegs auf diese beschränkt, denn auch die Mädchen im Barrio neigen dazu, wie die oben zitierte Unterhaltung zwischen Cuellar und Teresita schon zeigte und wie es dann der wohl raffiniertesten Szene dieser Erzählung abzulesen ist. Die Freunde suchen Cuéllars Angebetete auf, um herauszufinden, welche Gefühle sie für ihn hat, worauf sie sich wie folgt gibt:

Cuéllar?, hübsch saß sie auf ihrem Balkon, ihr sagt doch gar nicht Cuéllar zu ihm, sondern so ein hässliches Wort, schaukelte, damit das Laternenlicht auf ihre Beine fiel, er ist verrückt nach mir?, so recht ansehnliche dazu, woher wir das wüssten? Und Choto, tu nicht so, sie wisse es ebenso gut wie sie und die anderen Mädchen, ganz Miraflores rede davon, und sie, Augen, Mund, Näschen, wirklich?, als kämen sie von einem anderen Stern: hör ich zum ersten Mal. Und Mañuco, komm schon, Teresita, jetzt mal ehrlich, die Karten auf den Tisch, merke sie nicht, wie er sie anschaue? Und sie, o da da, klatschte, Händchen, Zähne, Sandalen, da, wir sollten schauen, ein Schmetterling!, sollten laufen, ihn fangen und bringen. Möglich, dass er sie anschaue, aber bloß als Freund, und außerdem, ach, wie hübsch, sie berührte die Flügel, Fingerchen, Nägel, Säuselstimme, ihr habt ihn umgebracht, armes Ding, habe er ihr nie etwas gesagt. Und wir, geschwindelt und gelogen, bestimmt habe er etwas gesagt und seien es Komplimente, und sie, nein, ehrlich, sie werde im Garten ein kleines Loch schaufeln und ihn begraben, Löckchen, Hals, zarte Ohren, niemals, das schwöre sie. Und Chingolo, merke sie nicht, wie er an ihr klebe?, und Teresita, möglich, dass er an ihr klebe, aber bloß als Freund, o da da, stampfte auf, Fäustchen, Flammenaugen, war ja gar nicht nicht tot gewesen, der Gauner, weg ist er!, Taille und Täubchenbrüste, dann habe er bestimmt ihre Hand genommen, nicht wahr?, oder es vielmehr versucht, nicht wahr?, da ist er, da drüben, wir sollten laufen, oder hab sich ihr erklärt, nicht wahr, und sollten ihn wieder fangen: er ist eben schüchtern, sagte Lalo, nimm ihn, aber vorsichtig, machst dich noch schmutzig, und weiß nicht, ob du ihn willst, Teresita, wolle sie ihn?, und sie, oje oje, Fältchen, krause Stirn, ihr habt ihn umgebracht und zerquetscht, ein Grübchen in den Wangen, Wimpern, Brauen, wen denn?, und wir, was heißt, wen, und sie, besser sie werfe ihn weg, zerquetscht, wie er war, wozu ihn begraben: kalte Schulter, Cuéllar? und Mañuco, ja, interessiere er sie?, sie wisse noch nicht, und Choto, dann gefalle er ihr also, Teresita, dann interessiere sie sich für ihn, und sie, das habe sie nicht gesagt, […] nein, keine faulen Tricks mit ihr, schaut mal, da glänze der Schmetterling zwischen den Geranien im Garten, oder war’s ein anderes Viech?, Fingerspitze, Fuß, weißer Absatz.

Die in dieses Gespräch eingeflochtene Begeisterung über einen Schmetterling – ein Paradebeispiel für Vargas Llosas „kommunizierende Röhren“– verleiht der Situation Vieldeutigkeit: Mit dem bunten Falter kann man Verspieltheit, Wechselhaftigkeit, aber auch Zartheit, Schönheit und Verletzlichkeit assoziieren und diese Eigenschaften auf Teresita beziehen, die von dem Schmetterling angezogen ist, oder aber auch auf Cuéllar, zumal an einigen Stellen die Rede über ihn oder den Schmetterling verwechselbar ist. Das Ansinnen, das Tierchen zu fangen, und der ungewisse Ausgang drängen sich überdies als Parallele zu der im Hintergrund stehenden Absicht auf, die beiden Jugendlichen in eine feste Beziehung zu bringen. 4

Die meisten Interpreten deuten Teresita so, dass sie nicht viel für Cuéllar empfindet, und das würde zur gleichnamigen Mädchenfigur in Der Stadt und die Hunde passen, deren Umgang mit Jungen opportunistisch scheint. Doch eindeutig ist das nicht. Eine andere Lesart wäre, dass sie, etwa als Beweis für die Echtheit seiner Gefühle, möchte, dass er sich ihr erklärt, ohne Vermittlung durch die Freude. Da die beiden in der Geschichte nicht zusammenkommen, wäre allerdings auch in diesem Fall eine pessimistische Folgerung zu ziehen: Selbst die Liebe holt den verwundeten Außenseiter nicht in die Gesellschaft zurück.

  1. Die Idee, die Gemeinschaft als Chor zum Ausdruck zu bringen, kam Vargas Llosa nach eigenem Bekunden erst nach mehrfachen Entwürfen für diese Novelle. Allerdings ist sie schon in seinem Erstling Die Stadt und die Hunde präfiguriert, um die Bedeutung kindlich-jugendlicher Freundschaft wiederzugeben, und zwar als Alberto mit seinen Freunden zur Steilküste rennt, nachdem ihr Fußballspiel eine Fensterscheibe zu Bruch gehen ließ: „Das war immer der Augenblick, in dem Alberto, an der Spitze der Fliehenden und schon ziemlich atemlos, rief: ‚Zu den Klippen! Kommt, wir gehen zu den Klippen!‘ Und alle folgten ihm und schrien: ‚Ja, ja, zu den Klippen!‘ Und er vernahm um sich her das Keuchen seine Freunde, das unregelmäßige und röhrende Keuchen Plutos, das gleichmäßige und kurze Ticos, das immer weiter zurückbleibende des Säuglings, der der schlechteste Läufer war, das ruhige Atmen Emilios, der wie ein Athlet seine Kräfte methodisch einsetzte und nicht vergaß, durch die Nase ein- und den Mund auszuatmen, und neben ihm das Keuchen Pacos, Sorbrinos und all der anderem, ein dumpfes, vitales Geräusch, das ihn fast liebevoll umgab und ihm Kraft verlieh […]“ (SuH S. 72 f.). ↩︎
  2. Zu dieser ‚bissigen‘ Funktion des Lachens passt im Grunde genommen die parodistische Konzeption der Geschichte selbst, auf die Oviedo hinweist: die Entmannung in einem machistischen Milieu durch einen Hund mit dem biblischen Namen Judas. Vargas Llosa scheine jetzt „die komische Seite“ dieser Gesellschaft aufzeigen zu wollen, „die Grausamkeit läuft in groteske Heiterkeit aus. Das ist eine fast absolute Neuerung im bisherigen Werk von Vargas Llosa, das sich besonders durch das Fehlen von Humor (und durch das Fehlen von Gott) charakterisierte.“ Nachwort von José Miguel Oviedo. In: MVLL: Die jungen Hunde. Suhrkamp, 1991. ↩︎
  3. Roslyn M. Frank: El Estilo de „Los cachorros“. In Jose Miguel Oviedo (Hg.): Mario Vargas Llosa. El estcritor y la critica. 1981, S. 156-175. ↩︎
  4. Vgl. Frank a.a. O. 165 f. ↩︎

Mit der Arbeit an seinem zweiten Roman beginnt Vargas Llosa 1962, noch bevor sein Erstling Die Stadt und die Hunde veröffentlicht ist. Im Frühjahr 1964 hat er einen Entwurf abgeschlossen, den er anhand einer abermaligen Reise in den peruanischen Urwald überprüft. Vargas Llosa lebt zu jener Zeit in Paris; seine wirtschaftlichen Umstände sind stabiler geworden, doch von der seelischen Lage muss man angesichts der eskalierende Ehekrise sowie des Unfalltods seiner Kusine das Gegenteil annehmen. Bis ins Jahr 1965 revidiert der Autor den Roman, im März 1966 erscheint dieser mit dem Originaltitel La casa verde bei Seix Barral in Barcelona. Die Anerkennung ist noch größter als beim Romandebüt: Vargas Llosa wird 1967 in Venezuela mit dem Literaturpreis Romulo Gallegos geehrt, er erhält außerdem den Peruanischen Nationalpreis für Romanliteratur und zum zweiten Mal den Spanischen Kritikerpreis.

Biographische Grundlage

Im Vergleich zum ersten Roman greift der zweite in inhaltlicher wie formaler Hinsicht weiter aus: Umfasste Die Stadt und die Hunde eine Spanne von etwa zehn Jahren der Adoleszenz, so überbrückt Das grüne Haus mehrere Jahrzehnte; beschränkte sich im ersten Fall der Handlungsraum auf Lima und Callao, so erstreckt er sich jetzt auf die Küstenstadt Piura und den peruanischen Regenwald, womit die kulturellen Gegensätze noch größer ausfallen, und drittens wird die Verschränkung von Dialogen und Handlungseinheiten weiter getrieben. Letztlich ist die biographische Grundlage vielgestaltiger als beim Erstlingsroman, der noch von einem einzigen Lebensabschnitt in Lima herrührte. Vargas Llosa reflektiert nun zum einen seine Zeit in Piura (die sich wiederum zweiteilt: seinen Aufenthalt als neunjähriges Kind sowie als 16-Jähriger) und zum anderen eine mehrwöchige Reise, die er mit 21 Jahren an den Oberlauf des Marañón im Nordosten Perus unternahm. Die Erinnerungen an ein grünangestrichenes Bordell mit einem Drei-Mann-Orchester vor der Toren Piuras, das ihm als Kind seltsam, furchteinflößend und faszinierend zugleich vorkam und sich für den jugendlichen Besucher als unspektakulär erwies, an das von Volksmusik und politischer Folklore geprägte Hüttenviertel Mangachería und an einen grantigen Pfarrer (Padre Garcia) drängen Vargas Llosa während seines Studiums dazu, eine Erzählung hierüber zu schreiben, eine „Art Tragödie voller Blut und Fanatismus“, die er verwirft, nachdem ihn ein Freund darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie Den scharlachroten Buchstaben von Nathaniel Hawthorne imitiert.1

Doch diese Fassung entsteht vor der besagten Urwaldexpedition, auf welcher der junge Schriftsteller vor allem mit drei Bildern oder Schicksalen konfrontiert wird: Er erlebt die Missionsstation Santa María de Nieva, in der Nonnen Kinder von Urwaldbewohnern aufnehmen, um sie nicht nur zum Christentum zu bekehren, sondern auch in umfassender Hinsicht an die westliche Zivilisation anzupassen. Geschieht dies mit der Absicht, den Heranwachsenden nützliche Fertigkeiten beizubringen und ein besseres Leben zu ermöglichen, geht damit andererseits das Unrecht einher, dass die Mädchen zwangsweise ihren Gemeinschaften entrissen und für immer entfremdet wurden und dass viele von ihnen, weil es nach der Ausbildung keine Beschäftigung vor Ort für sie gab, als Hausangestellte oder gar Prostituierte in den Küstenstädten endeten. Eine dieser jungen Frauen, die mit Hilfe eines Anthropologen zu ihren indigenen Eltern zurückgebracht wurde, lernt Vargas Llosa dabei kennen. Die zweite wichtige Begegnung ist die mit dem Vorsteher eines Eingeborenen-Dorfes, der sich gegen die Ausbeutung durch Kautschuk-Händler gewehrt hatte und deswegen gefoltert worden war. Drittens hört Vargas Llosa von den Umtrieben eines japanischen Abenteurers, der sich auf eine Flußinsel abgesetzt und eine Miliz gegründete hatte, um Kautschuk und Mädchen zu erbeuten.

Für den Literaten sind diese Erlebnisse zweischneidig: „Einerseits erfüllte mich die ganze Barbarei mit Wut: Sie machte die Rückständigkeit, die herrschende Ungerechtigkeit und die Ungebildetheit meines Landes deutlich. Andererseits faszinierte sie mich: was für ein phantastisches Erzählmaterial. Zu jener Zeit begann ich die bittere Wahrheit zu erkennen, dass der Rohstoff der Literatur nicht das Glück, sondern das Unglück des Menschen ist. Die Schriftsteller ernähren sich wie die Geier, vorzugsweise von Aas“ (GG S. 52). Als nach Abschluss des ersten Romans diese Erinnerungen wieder hervordrängen, versucht Vargas Llosa zunächst, zwei Romane parallel zu schreiben, einen über Piura, einen über den Urwald, um festzustellen, dass sich die Fantasien und Figuren beider Teile vermengen. Somit entsteht ein von seinen Themen und Schauplätzen her dualistisches Werk. Die biographische Ausgangssituation, nämlich dass Vargas Llosa Piura einmal als 16-Jähriger und einmal als Neunjähriger erlebte, bedingt eine weitere Doppelung: Neben der objektiven-gegenwärtigen Romanwirklichkeit existiert eine mythisch-vergangene, der das grüne Haus, dessen Gründer Anselmo, der – wie in einem Western – als fremder Reiter in dem Städtchen aufgetaucht war, und ein ebenfalls aus der Fremde kommendes taubstummes Mädchen namens Antonia entstammen.

Makrostruktur aus fünf Handlungsträngen

Die Geschichte von Anselmo und Antonia, die später seine Geliebte wird, ist eine der fünf Stränge dieses Romans. Die weiteren sind der Lebensweg der an das entführte Indio-Mädchen angelehnten Figur Bonifacia, die der Leser zuerst als Angehörige einer Klosterschule im Urwald kennenlernt, und die zur Prostituierten im Grünen Haus wird, der Werdegang von Lituma, einem in Piura aufgewachsenen Mann, der als Leutnant im Urwald tätig ist, Bonfacia heiratet und mit ihr nach Piura zurückkehrt, das Treiben der drei Trunken- und Raufbolde aus dem Viertel Mangachería („Die Unbewingbaren“), das Schicksal der Figur Jum, die dem gefolterten Dorf-Vorsteher nachempfunden ist, die Erlebnisse des Bootslotsen Adrian Nieves und dessen Frau Lalita sowie die Erzählung von Fushia, einem Abbild des japanischen Abenteurers. Das Werk ist so aufgebaut, dass an eine Episode aus einem dieser fünf Stränge stets eine aus einem anderen anschließt, und zwar so, dass nach einem Durchgang durch alle fünf Geschichten der nächste in derselben Reihenfolge stattfindet. Zumindest besteht dieses Muster über 35 Sequenzen (also sieben Durchgängen) hinweg in den ersten zwei Büchern des Romans, bevor es im dritten aufgebrochen wird und sich im letzten sowie im Epilog auflöst. Die fünf Geschichten werden insofern miteinander verschnitten.

Weitergehende Montage und gleitende Perspektive

Damit nicht genug, werden innerhalb der einzelnen Sequenzen Szenen, Bruchstücke verschiedener Orte und Zeiten miteinander montiert, wie man es aus Debütroman kennt, nur dass diese Technik noch gesteigert wird. So werden mitunter nicht nur zwei, sondern drei Gespräche miteinander verschachtelt, wofür der Vargas-Llosa-Kenner Oviedo den Begriff Teleskopdialog geprägt hat.2 Neu ist auch die Variante, inmitten eines Dialogs Bruchstücke früherer Ereignisse, auf die sich das Gespräch bezieht, einzuschalten, etwa während Bonifacia von einer Nonne im ersten Kapitel des ersten Buchs verhört wird. Zu den narrativen Besonderheiten diese Romans zählt ferner, dass das Zusammensein von Anselmo und Antonia als Anrede in der zweiten Person geschildert wird.

Aber auch dann, wenn nicht verschiedene Zeitebenen miteinander verschränkt werden, kommt es zu einer Vermischung, indem die Erzählperspektive zwischen verschiedenen Standpunkten zu gleiten scheint, wie in der Eingangszene des Romans:

Der Sargento wirft einen Blick auf Madre Patrocinio, und die fette Schmeißfliege sitzt immer noch da. Das Motorboot hopst auf den trüben Wellen dahin, zwischen zwei Mauern aus Bäumen, die einen stickigen heißen Dunst ausatmen. Unter dem Sonnendach zusammengerollt, vom Gürtel aufwärts nackt, schlafen die Guardias, gewärmt von der grünlich-gelben Mittagssonne: Der Kopf des Knirpses liegt auf dem Bauch des Fetten, der Blonde ist in Schweiß gebadet, der Dunkle schnarcht mit offnem Mund. Ein Schirm aus Insekten begleitet das Boot, zwischen den Körpern kreisen Schmetterlinge, Wespen und dicke Fliegen. Der Motor rattert gleichäßig vor sich hin, stottert, rattert wieder, und der Lotse Nieves führt das Steuer mit der linken Hand, mit der rechten raucht er, und sein tief gebräuntes Gesicht unter dem Strohhut bleibt unverändert. Diese Leute aus dem Urwald waren nicht normal, warum schwitzen sie nicht wie Christenmenschen? Achtern sitzt steif, mit geschlossenen Augen, Madre Angélica, mindestens tausende Falten im Gesicht, mitunter steckt sie die Zungenspitze heraus und leckt den Schweiß vom Schnurrbart und spukt aus. Die arme Alte, solche Ausflüge waren nichts für sie. Die fette Schmeißfliege schlägt die kleinen blauen Flügel, löst sich mit sanftem Auftrieb von der rosigen Stirn Madre Patrocinios, fliegt in Kreisen davon ins weiße Licht, und der Lotse würde gleich den Motor abstellen, Sargento, sie waren nämlich gleich da, nach dieser Einbuchtung kam Chicais. Aber etwas sagte dem Sargento, es wird niemand dasein.

Äußere Beschreibung, innerer Monolog, direkte Rede gehen hier ineinander über, ohne dass man eindeutig zuordnen könnte, aus wessen Sicht erzählt wird. Oviedo nennt dieses Verfahren „pluridimensionale Erzählung“. 3 Und so geht es weiter: Auf den nächsten Seiten des Epilogs wechseln übergangslos Redeanteile verschiedenen Ursprungs und Vorgangsbeschreibungen, unter anderem wird die Schilderung, wie die Soldaten unter Ägide der Nonnen drei Indio-Mädchen rauben, mit einem Maria-Gebet verflochten, womit die Verstrickung der Kirche ins Unrecht sinnfällig wird.

Gestaffelte Information, Schwächung von Identifikation und Spannung

Die Vermengung von Handlungs- und Gesprächsfragmenten nötigt dem Leser eine größere kognitive Anstrengung ab, die Informationen zuzuordnen, was dadurch noch erschwert wird, dass die Sequenzen der fünf Geschichten entgegen ihrer Chronologie dargebracht werden – eine Verkehrung, die über Rückblenden traditioneller Erzählweisen weit hinausgeht. So begegnen wir Fushia anfangs eher am Ende seines Lebens, und ähnlich verhält es sich mit Jum, den wir kennenlernen, nachdem er gefoltert wurde, bevor dieses Schlüsselereignis die allerletzte Folge des Erzählstrangs bildet. Bei Lituma und Bonifacia springt die Darstellung zwischen den Lebensphasen in Piura und im Urwald hin und her, und zuerst wissen wir gar nicht, dass es sich um dieselben Personen handelt, weil Lituma in der Urwald-Periode nicht beim Namen genannt wird und Bonifacia in Piura den Spitznamen Selvatica trägt. Im Kopf des Lesers bildet sich die Erkenntnis, etwa wenn Selvatica in einer Passage eines hilfsbereiten Mannes namens Aquilino gedenkt und in der nächsten Bonifacia von Alquilino einen Brautkleid geschenkt bekommt. Insofern sind manche der chronologisch disparaten Sequenzen durch Spuren miteinander verbunden. In anderen Fällen erkennt man in der Szenenfolge Analogien: Beispielsweise schließt im ersten Buch an das Gespräch über den Ausbruch von Indiomädchen aus dem Missionsinternat die Unterhaltung von Aquilino und Fushia über dessen Flucht an.

Auf einen „Aha“-Effekt sind auch dramatische Situationen angelegt: Anselmos Flehen beim Brand des grünen Hauses könnte man zunächst so auffassen, er würde um sein Hab und Gut barmen, bevor erst ein unscheinbares Pronomen (… am Ende war es noch drin) und nach weiteren Sätzen entsetzten Fragens eine Umschreibung (… dass es da war, unverseht, in den Armen der Köchin) erahnen lässt, was wirklich auf dem Spiel stand. Die anschließende Sequenz gibt dem Leser zu verstehen, dass die Inhaberin des wiederaufgebauten grünes Hauses, Chunga genannt, dieser aus den Flammen gerettete Säugling war und damit die Tochter von Anselmo und der bei der Geburt verstorbenen Antonia ist. Ein anderes Beispiel dafür, wie sich bestürzende Tatsachen beim Lesen herausschälen, ist das Gespräch zwischen Josefino und Bonifacia – dem Freund und der Ehefrau Litumas – im zweiten Kapitel des dritten Buchs, bei dem man Stück für Stück begreift, was passiert, während Lituma im Gefängis sitzt: dass die beiden ihm Nahestehenden eine Affäre miteinander haben, dass sie ein Kind von Lituma erwartet und dass Josefino verlangt, es abzutreiben. – Wesentliche Tatsachen erst verzögert zu offenbaren, diesen dato escondido genannten Kniff wendete Vargas Llosa schon in seinen vorherigen Werken an, doch hier wird die Information feiner dosiert und gestaffelt nachgereicht.

Die Entschlüsselung hat, wenn sie dem Leser gelingt, ihren Reiz, der Weg dorthin mindert aber die Identifikation mit dem Geschehen und mit den Figuren. Lituma im Urwald und in Piura kann man sich ebensowenig als ein und dieselbe Person imaginieren wie Bonifacia/Selvatica, zu groß sind die Unterschiede im Auftreten. Eher fallen die Gestalten in der Vorstellung des Lesers in je zwei verschiedene Charaktere auseinander – ähnlich wie in Die Stadt und die Hunde der Bandenführer Jaguar kaum mit dem Jungen in eins zu setzen ist, der er früher gewesen sein soll. Die beiden Protagonisten im Grünen Haus wie auch die Nebenfiguren bleiben insofern rollenhaft, sie erreichen nicht die Vielschichtigkeit wie Alberto oder Gamboa in Vargas Llosas erstem Roman. Eine spannungsvolle Ambivalenz ergibt sich allerdings aus dem Verhalten der Nonnen, die in der Eröffnungsszene einerseits die Entführung der Indiomädchen betreiben, andererseits die Soldaten zur Mäßigung anhalten, und deren Oberin die einzige Instanz ist, die gegenüber dem Kommandanten die Folterung Jums missbilligt. Man kann hierin eine Parallele zur Rolle der Kirche bei der Kolonisierung Amerikas durch die Spanier sehen, als auch im Namen des Christentums die autochtone Bevölkerung unterworfen wurde, während es seinerzeit katholische Missionare waren, die öffentlich forderten, die Indios als Kinder Gottes gut zu behandeln.

Bildmächtigkeit

Die Zerlegung der Handlung und Sprechakte durch die vielfachen Montagen untergräbt zudem einen Spannungsaufbau: Obwohl dem Plot ein Fülle dramatischer Vorfälle wie Kindesentführung, Folterung oder Brandstiftung zugrundeliegt, ist er nicht so zugkräftig wie jener in Die Stadt und die Hunde. Dafür arbeitet das Grüne Haus stärker mit sinnlichen, zuallererst visuellen Impressionen und entfaltet eine Sogwirkung auf diese Weise. Panoramabeschreibungen der Wüste von Pirua oder der Flusslandschaft rundum die Urwald-Station Santa María de Nieva einerseits, Einblendungen optischer Details inmitten von Gesprächen oder Vorgängen andererseits geben der Erzählung eine filmische Note, und der wie erwähnt zuweilen gleitende Perspektivwechsel wirkt ähnlich wie eine Kamerafahrt. Manche Bilder steigern sich ins Mythische, Biblische, wenn Anselmo als Fremder in die Stadt einzieht, ohne eine Herberge zu finden, wenn er später wie der Wagenlenker in Platons Phaidros mal auf mit einem weißen, mal mit einem schwarzen Pferd unterwegs ist4 oder wenn der Pfarrer zum Sturm auf das sündige Haus aufruft, auf dass es wie Gomorra niederbrennt.

Die aus dem Kadettenroman bekannte Metaphorisierung von Augenausdrücken verdichtet sich bei der Figur Bonifacia/Selvatica zu einem Code für ihre Identität als Urwald-Stämmige: Eingeführt als „grüne Flämmchen“ (GH S. 53) werden ihre Pupillen zu einem Wiedererkennungsmerkmal, das sich durch das ganze Buch zieht. Schon im Titel des Romans kommt die Farbe zum Tragen, das grüne Haus inmitten der von Gelbtönen geprägten Wüstenstadt steht in Verbindung zur wilden Fremde. Dass das Dschungelmädchen Bonifacia dort landet, fügt sich in diese Farbsymbolik ebenso ein wie ihr gelbes Kleid, dass sie für die Hochzeit mit dem Piuraner Lituma trägt. Nicht zufällig ist, dass im oben zitierten Romanbeginn als erste farbige Bezeichnung die „grünlich-gelbliche Mittagssonne“ vorkommt, bevor das Szenenbild weitere Farbtupfer bekommt („tief gebräuntes Gesicht“, „blaue Flügel“, „rosige Stirn“).

Inseln der Menschlichkeit

Insgesamt also ist die Darstellung in Vargas Llosas zweiten Roman kunstvoller, aber insofern auch künstlicher als in seinem ersten. Umso mehr fallen die wenigen Begebenheiten auf, in denen eine natürliche Nähe und Sympathie zwischen den Figuren aufscheint. Hierzu zählen der Moment, als der Lotse Nieves dem Sargento Lituma abends am Lagerfeuer zum Freund erklärt (GH 145/146) – eine Verbindung, die an jene zwischen dem ‚Sklaven‘ und Alberto in die Stadt und die Hunde erinnert, – oder das Beisammensein von Arzt, Pfarrer und Weggefährten Anselmos in den Stunden nach dessen Verscheiden am Ende der Geschichten. Es ist, als träten die Figuren aus ihren Rollen und würden Menschen.

  1. MVLL: Geheime Geschichte eines Romans. (GG) S. 27. ↩︎
  2. Aus einem Figurendialog werden früheren Dialoge gleichsam herausgezogen, ähnlich wie aus dem äußeren Kubus eines Teleskops kleinere hervorkommen. Am weitesten getrieben ist dies in einem Gespräch zwischen Fuschia und seinem Begleiter Aquilino im zweiten Kapitels des ersten Buchs. Vgl. Oviedo: Invencion de una realidad. S. 72 ff. ↩︎
  3. Ebenda. ↩︎
  4. Hierzu Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. S. 31. – Das Pferdemotiv begegnet bereits in Vargas Llosas früher Erzählung Der jüngere Bruder, die ebenfalls ins Mythologisch-Symbolhafte übergleitet. ↩︎

Die Muße, statt Kurzgeschichten einen Roman in Angriff zu nehmen, findet Vargas Llosa, als er 1958 mit dem Schiff nach Europa übersiedelt. Auf der fast dreiwöchigen Atlantikpassage notiert er sich Skizzen, die er nach der Ankunft in Madrid und später in Paris ausarbeitet – neben seinen Verpflichtungen als Promotionsstudent bzw. den Brotjobs, mit denen er sich in Paris über Wasser hält. Anfang 1962 ist das Werk mit den Arbeitstiteln La morada de héroe (Das Haus des Helden) und Los Impostores (Die Schwindler) fertig.1 Es wird in Spanien mit dem Literaturpreis Biblioteca Breve ausgezeichnet und erscheint, nach Verhandlungen mit der Zensurbehörde, beim Verlag Seix Barral in Barcelona unter dem Titel La ciudad y los perros (Die Stadt und die Hunde). Bald darauf wird es in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt.

Ähnlich wie in der frühen Erzählung Die Anführer haben Ort und Handlung einen engen biographischen Bezug. Vargas Llosa gestaltet seine Zeit in Limas Militärinternat Leoncio Prado und zeichnet eine der Hauptfiguren, den schriftstellernden Kadetten Alberto, nach sich selbst, entzieht ihr aber zugleich einen wichtigen Zug, indem sich Albertos Verhältnis zum Schreiben als rein instrumentell herausstellt. Das eigene Vater-Trauma und die damit verbundene Scheu verpasst Vargas Llosa wiederum einer anderen Hauptfigur, dem als Sklaven beschimpften Kadetten Ricardo, die ansonsten wohl einem Mitschüler namens Alberto Lynch Martínez nachempfunden ist. Auch die dritte Hauptfigur, der am entgegengesetzten, also oberen Ende der Hierarchie stehende Kadett mit dem Spitznamen Jaguar lehnt sich an einen Internatsgenossen namens Estuardo Bolognesi Cedrón an.2 Diese Figur spaltet sich auf: Zunächst lernt sie der Leser als dominanten Kadetten kennen, bevor man mit ihr den eher schüchternen Ich-Erzähler identifiziert, der vor seiner Internatszeit in Teresa, ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, verliebt ist und sie danach heiratet. Diese Seite des ‚Jaguar‘ scheint Vargas Llosa von sich selbst bzw. seine erste Jugendliebe, abgeleitet zu haben. Im Roman haben alle drei Hauptfiguren Teresa zur Freundin. Diese Unwahrscheinlichkeit – besonders im Fall des gewalttätigen Jaguar – verblüfft umso mehr, als dass die Erzählung ansonsten realistisch ist. Der junge Romancier ist selbstbewusst oder eigenmächtig genug, sich nicht um Realismus zu scheren, wenn es um intime Sehnsüchte geht.

Auftürmung der Konflikte

Mit der Kurzgeschichte Die Anführer teilt der Erstlingsroman zudem die Grundkonstellation: Rivalität und Bandenbildung unter Jungen sowie ein Aufbegehren gegen die Schulautorität. Jedoch erzeugt jetzt der Plot viel mehr Spannung, indem die Konflikte sich quasi auftürmen. Es fängt damit an, dass der Kadett Cava im Auftrag von Jaguar ins Unterrichtsgebäude nachts eindringt, um die Aufgaben der anstehende Klassenarbeit vorzeitig in Erfahrung zubringen. Weil er dabei eine Fensterscheibe zerbricht, bemerkt die Schulleitung den Streich und verbietet dem gesamten Jahrgang, am Wochenende die Einrichtung zu verlassen, so lange bis sich der Täter meldet. Ricardo leidet besonders darunter, dass er Tereza nicht sehen kann, und verrät daher, wer es gewesen ist – woraufhin Cava zum Entsetzen seiner Kamaraden der Schule verwiesen wird. In der Mitte des Buchs kommt es zum dramatischen Höhepunkt: Bei einer Feldübung der Kadetten wird Ricardo erschossen. Wer der Schütze war, ob es Mord oder ein Unfall war, bleibt bis zum Ende uneindeutig, auch weil die Militärs sich mehr um das Ansehen der Schule sorgen sind als um die Aufklärung, zumal das Opfer aus der Unterschicht stammt. Mit diesen Gang der Dinge offenbaren sich der Machismus und rassistisch grundierte Klassismus sowie das heuchlerische Rollenspiel3 und die Doppelmoral einer Gesellschaft, in die schließlich auch Alberto und Jaguar nach ihrer Schulzeit als etablierte Mitglieder streben.

Fortführung der narrativen Mittel

Diese inhaltlichen Merkmale waren bereits in den vorherigen Erzählungen, vor allem in Der jüngere Bruder und Sonntag angelegt. Ebenso kehren die formalen, narrativen Mittel wieder: Der Romanerzähler versetzt den Leser unvermittelt in eine spannungsgeladene Situation und bedient sich einer breiten Palette von Sinnesreizungen und Körperempfindungen, äußerer wie innerer Stimmen, Detailwahrnehmungen und ausgreifenden Schilderungen.

„Vier“, sagte der Jaguar.

Die Gesichter entspannten sich im unsichern Schein, den die Glühbirne durch die wenigen noch sauberen Stellen im Raum verbreitete: für die anderen war die Gefahr vorbei, nicht für Porfirio Cava. Die Würfel lagen still, zeigten drei und eins, ihr Weiß stach vom schmutzigen Fußboden ab.

„Vier“, wiederholte der Jaguar, „wer hat vier?“

„Ich“, flüsterte Cava, „ich hab vier.“

„Beeil dich“, drängte der Jaguar. „Du weißt: das zweite von links.“

Cava fröstelte plötzlich. Die fensterlosen Waschräume befanden sich jeweils am Ende der Schlafsäle und waren nur durch die dünne Holztür von ihnen getrennt. In den Jahren vorher war die Winterkälte nur bis zum Schlafsaal vorgedrungen; aber dieses Jahr war sie aggressiv; fast kein Winkel der Schule war vor dem Wind sicher. Er blies sogar bis in die Waschräume, verjagte den tagsüber angesammelten Gestank und vertrieb die laue Wärme. Aber Cava war in der Sierra geboren und aufgewachsen, er war an Kälte gewöhnt. Die Gänsehaut kam von seiner Angst.

„Ist jetzt Schluss? Kann ich schlafen gehen?“ fragte Boa: ein ungewöhnlich großer Körper, eine zu laute Stimme, ein Schopf fettiger Haaren, die vom zu großen Schädel wegstanden, ein winziges Gesicht mit vor Müdigkeit dick verquollenen Augen. Er hatte den Mund offen, von der vorstehenden Unterlippe hing eine Tabakfaser […].

Der Blick auf den Körper, genauer gesagt auf die Körpersprache und körperliche Charakteristika, wie ihn Vargas Llosa in seiner Erzählung Sonntag entwickelt hat und wie er auch in dieser Eingangszene zum Tragen kommt (Gesichtsentspannung, Gänsehaut, Boas Aussehen bishin zum Detail an seiner Lippe), fokussiert sich im weiteren Romanverlauf meist auf den Augenausdruck, das Mienenspiel oder die Hände, wobei die Beschreibungen nicht selten metaphorisch untermalt werden.4 Auch die für die Kurzgeschichte Die Anführer typische impressionistisch-akustische Überschwemmung findet sich in die Stadt und die Hunde, wenn der Kadett Boa einen Sportwettkampf schildert. Ferner weisen die Wortwechsel in der Kadettenanstalt und unter den Jugendlichen in Miraflores Schlagfertigkeit, Ironie und Zynismus auf, wie sie an Figuren aus den Frühwerken Der Verräter und Sonntag erinnern.

Hinzu kommen, in geringer Dosis, Farbtupfer wie das blaue Haarband von Tereza oder das „makellose Weiß der Képis“, das beim Ausgang der Kadetten die Avenida „wie ein Sturzbach“ überströmt (SuH 61), und zeichenhafte Momente, etwa der „harte, metallische Aufprall“ eines Gewehrs am Morgen des Manövers, das auf das Unglück vorausdeutet (SuH 188) oder die Pfoten mit „grausamen Krallen“, die Alberto an Stuhlbeinen im Offiziersblock erblickt (SuH 298). Letzteres gehört zur Tiermetaphorik, die an vielen Stellen im Roman vorkommt und den Spitznamen in der Militärakadmie (Jaguar, Boa, Piraña) und nicht zuletzt der titelgebende Bezeichung „Hund“ zugrundeliegt.5 Sie kann als Ausdruck inhärenter Gewalt verstanden werden.

Montage oder „kommunizierende Röhren“

Neu im Vergleich zu den bisherigen Prosastücken ist vor allem eine vielfältige Montagetechnik. Vargas Llosa selbst spricht in seinen theoretischen Schriften von ‚kommuzierenden Röhren‘ und erblickt hierin, wie er in einer Vorlesung Ende der 1960er Jahre darlegt, eine von drei Grundtypen, denen man alle Erzähltechniken im Roman zuordnen könne.6 Hierbei geht es darum, Sprechakte oder Handlungseinheiten zu fragmentieren und in anderer Form zusammenzusetzen. Einmal geschieht dies innerhalb von inneren Monologen, etwa wenn Alberto darüber nachsinnt, wie er mit dem Schreiben erotischer Texten begonnen hat, und sich hierbei Erinnerungsfetzen von dem Tag, an dem er vom Ehebruch des Vaters erfährt, untermischen:

[…] „Mist!“, sagte Vallano zerknirscht. „Ich schwör euch, es tut mir entsetzlich leid.“ ‚Da habe ich zu ihm gesagt, für einen Packung Zigaretten schreibe ich dir eine schönere Geschichte als Die Freuden der Eleodora, und an dem Morgen habe ich erfahren, was passiert war, Gedankenübertragung oder die Hand Gottes, ich erfuhr es, und ich fragte, was ist denn mit Papa los, Mammi? Und Vallano sagte, wirklich? Da, nimm Stift und Papier, mögen die Engel dich inspirieren, und sie antwortete, lieber Junge: Mut! Ein großes Mischgeschick hat uns befallen, dein Vater hat sich zugrunde gerichtet, er hat uns verlassen, und da fing ich zu schreiben an […] (SuH S. 151)

Zum anderen kommt es zur Vermengung von innerer und äußerer Rede, beispielsweise als Alberto General Huarina während seiner Nachtwache begegnet:

„Mi teniente, ich möchte Sie um Ihren Rat bitten“, sagt Alberto. ‚Ich könnt ihm ja weismachen, dass ich fast sterb vor Bauchweh, ich könnt ihm schwören, dass ich ein Aspirin oder so was brauch, dass meine Mutter schwer krank zu Haus liegt, dass die Vicuña erschlagen worden ist; ich könnt ihn inständig bitten …‘ „Ich meine, ich brauche Ihren Rat in einer Gewissensangelegenheit.“

„Was sagen Sie?“

„Ich habe ein Problem“, sagt Alberto, immer noch in Habachtstellung. ‚… sagen, mein Vater ist General, Konteradmiral, Feldmarschall, und schwören, dass er für jeden Strafpunkt, den er mir gibt, ein Jahr länger auf Beförderung wird warten müssen. Ich könnt auch sagen …‘ „Es handelt sich um etwas Persönliches.“ Alberto verstummt, zögert einen Augenblick und lügt drauflos: „Der Coronel hat uns gesagt, wir könnten unserer Offiziere jederzeit um Rat fragen. Ich meine, was persönliche Dinge anlangt.“ (SuH S. 16 f.)

Drittens kommt es vor, dass zwei verschiedene Gespräche miteinander verschränkt werden, einmal im Epilog, als der Jaguar seinem Kumpanen Higuieras erzählt, wie er mit Teresa zusammengekommen ist, oder bei Albertos Telefonat in einer Kneipe:

[…] „Teniente Gamboa?“, fragt Alberto. „Pisco de Montesierpe“, behauptet der Schatten, „schlechter Pisco, Pisco Motocachi, guter Pisco.“ – „Am Aparat Wer spricht?“ – „Ein Kadett“, antwortet Alberto. „Ein Kadett des Fünften Jahres. “ – „Die Alte soll hochleben; und meine Freunde auch: hoch!“ – „Was wollen Sie?“ – „Meine Meinung nach des beste Pisco der Welt“, versichert der Schatten; dann verbessert er: „Oder einer der besten, Señor. Pisco Motocachi.“ – „Ihr Name?“ fragt Gamboa. „Ich will zehn Kinder haben. Alles Söhne. Dann nenne ich sie nach meinen Freunden. Nicht nach mir, nur nach euch.“ – „Arana ist umgebracht worden“, sagt Alberto. „Ich weiß, wer’s war. Darf ich zu Ihnen kommen?“ – „Wie heißen Sie?“, fragt Gamboa. „Wollen Sie einen Wal umbringen? Dann geben Sie ihm Pisco Motochachi, Señor.“ – „Kadett Alberto Fernandez, mi teniente. Erste Abteilung. Kann ich kommen?“ – „Kommen Sie auf der Stelle“, antwortet Gamboa. […] (SuH S. 293 f.)

Schließlich ist die Darstellung der Handlungsebene dadurch gekennzeichnet, dass kurze, oft bruchstückhafte Abschnitte aneinander gereiht werden, sodass zeitlich und räumlich voneinander entferne Ereignisse und unterschiedliche Erzählperspektiven (ein neutraler Erzähler, ein Erzähler aus der Perspektive Albertos sowie zwei Ich-Erzähler: der Kadett Boas sowie Jaguar als Kind vor dem Eintritt in die Kadettenanstalt) abwechseln.7

Solche Montagen können im Prinzip zwei Effekte haben: Entweder offenbart sich eine Überstimmung zwischen den kombinierten Elementen und daher ein Sinn, oder es erweist sich ein Kontrast und Widerspruch, und insofern entsteht Spannung. So legt die Verknüpfung von Albertos Erinnerungen an des Vaters Seitensprünge und an die Anfänge seiner obszönen Auftragsprosa den Gedanken nahe, dass die eine Unanständigkeit in Liebesdingen die andere bedingt haben könnte, während die Überblendung von Albertos Gedanken und Worten im Gespräch mit Huarina aufzeigt, wie sehr seine Einbildung und Großspurigkeit von dem, was er wirklich äußert, abweicht. Im Kneipentelefonat wiederum erwächst eine Fallhöhe zwischen dem Anliegen Albertos, die Wahrheit über ein Verbrechens aufzudecken, und der Frivolität einer Feiergesellschaft, zumal auf beiden Ebenen von ‚Umbringen‘ die Rede ist. Die Alteration von Handlungsfragmenten und Erzählstimmen stellt ebenfalls Übereinstimmungen und Kontraste heraus. Einer der effektvollsten Perspektivenwechsel begegnet dem Leser im zweiten Teil Romans. Dort tritt der Vater des im Sterben liegenden Kadetten Arana auf und teilt Alberto in hilfloser Weise seine Sicht der Dinge mit, bevor eine Rückblende anschließt, die von dem Tag handelt, als derselbe Vater dem Sohn stolz eröffnet, ihn auf das Militärinternat zu schicken (SuH S. 217 ff.). Wie hier pendelt die Erzählung zwischen Phasen in den Lebensgeschichten der Kadetten, wodurch der Leser den Zusammengang der Herkunft und insofern die soziale Bedingtheit erkennt. Andererseits zeigen (Ausnahme-)Situationen, dass die Figuren die Wahl hätten, frei zu entscheiden, womit der Roman weltanschaulich zwischen Sozialdeterminismus und Existentialismus changiert. 8

Vielschichtige Situationen

Es sind nicht allein diese Erzähltechniken, die dem Roman eine Doppelbödigkeit und Vielschichtigkeit verleihen. Es liegt auch an der Kunst des Autors, Konstellationen zu schaffen, die inhaltlich doppeldeutig oder vielmehr polyvalent sind und daher den Leser in Unruhe versetzen. Dies geschieht vor allem im Zusammenhang mit der Hauptfigur Alberto, die ja charakterlich zwiespältig ist: hin- und hergerissen zwischen Machoallüren – Gewalt, Betrug, roher Sex – einerseits und aufrichtigen Gefühlen andererseits, oder wie Ricardo über ihn sagt: „ein brutaler Kerl, aber anständig“ (SuH S. 139). Paradebeispiel könnte die Szene sein, als Alberto nach Haus zurückkehrt, nachdem er den Freundschaftsdienst, Ricardos Schwarm Teresa eine Nachricht zu überbringen, dahingehend umfunktioniert hat, kurzerhand selbst das Mädchen ins Kino einzuladen und sich in sie zu vergucken, womit er seine – ohnehin schon vom Vater verlassene – Mutter versetzt.

Seine Mutter sagte kein Wort, blickte ihn nur traurig an. Alberto empfand eine unendliche Gleichgültigkeit.

„Entschuldige, Mama“, sagte er noch einmal. „Sei nicht böse. Ich habe wirklich alles versucht, um wegzukommen; es ging einfach nicht. Und jetzt bin ich müde. Darf ich ins Bett gehen?“

Seine Mutter antwortete nicht. Sie sah ihn nur beleidigt an, und er überlegte: ‚Wie lange wird’s noch dauern?‘ Es dauerte nicht lange: unversehens legte sie die Hände vors Gesicht und fing gleich darauf an, leise zu weinen. Alberto strich ihr über das Haar. Seine Mutter fragte, warum er sie leiden lasse. Er schwor ihr, dass er sie mehr liebe als alles auf der Welt, und sie nannte ihn einen Zyniker, den Sohn seines Vaters. Zwischen Seufzern und Anrufungen Gottes redete sie von Pasteten und Biskuits, die sie im Laden an der Ecke gekauft habe, wie ausgezeichnet sie seien, vom Tee, der auf dem Tisch kalt geworden sei, und von ihrer Einsamkeit und von der Tragödie, die der Herr ihr auferlegt habe, um sie zu prüfen, und von ihrem Opfer. Alberto fuhr ihr mit der Hand durchs Haar und beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen. Dabei dachte er: ‚Wieder ein Wochenende, ohne dass ich zur Pies Dorados gekommen bin.‘

Fragwürdig an Albertos Verhalten ist, dass er seinen Freund Ricardo hintergeht, seiner leidgeprüften Mutter einen zusätzlichen Stich gibt, Mitgefühl heuchelt und zugleich daran denkt, eine Prostituierte zu besuchen. Andererseits spricht für ihn, dass er entgegen seinem Vorurteil oder dem sozialen Ressentiment sich Teresa gegenüber edel verhält und zarte Gefühle für sie entwickelt, weshalb nachvollziehbar ist, dass er einen Kinobesuch mit ihr einer biederen Kaffeemahlzeit mit seiner wehklagenden und frömmelnden Mutter vorzieht. Man kommt insofern auf sechs zum Teil widerstreitende Motive, die hier gleichsam zusammengeschnürt sind und beim Lesen ebenso ambivalente Empfindungen auslösen.

Die andere Figur, in der sich antagonistische Kräfte bündeln, ist der Offizier Gamboa. Sein Kommandoton ist brutaler, sein Umgang mit den Kadetten härter als der anderer Offiziere, aber im Gegensatz zu diesen, die schon körperlich oder stimmlich nicht überzeugen, ist er ein Vorbild an Disziplin und Korrektheit, weshalb er von den Kadetten geschätzt wird. Andererseits relativiert sich der Eindruck aus der Warte seines vorgesetzten Capitan Garrido, der anders als Gamboa echte Kriegserfahrung hat und es „amüsant“ findet, dass dieser die Feldübungen, die dem wirklichen Krieg nicht ähneln, so ernst nimmt (SuH S. 194, 197, 201). Garrido erweist sich als der Erfahrungsklügere, Flexiblere gegenüber dem prinzipienhaften Gamboa und legt ihm, der die Regeln des Militärs auswendig gelernt hat, auseinander, dass die Theorie gut, aber das Leben „praktisch“ sei, nicht die Wirklichkeit müsse sich den Vorschriften, sondern die Vorschriften „der jeweiligen Lage“ anpassen (SuH 363 f). Jedoch ist der Kontext, in dem diese Worte fallen, derart, dass Prinzipienhaftigkeit ethisch angebrachter wäre als ein solcher Pragmatismus: der Tod des Kadetten Arana und die Frage nach dem Schuldigen. Garrido blockiert und verschleiert die Aufklärung, um Schaden vom Militärinternat abzuwenden, Gamboa beruft sich auf sein „Gewissen“ und seine „Pflicht“ und sorgt dafür, dass Alberto seine Version vom tödlichen Schuss vortragen kann. Die Erwartung, Gamboa würde als Mann moralischer Überzeugungen sich dem verstörten und nach Wahrheit strebenden Alberto väterlich annehmen, wird indessen dadurch gebrochen, dass er bald das Interesse an dem Fall zu verlieren scheint und dem Jungen bescheidet: „‚Ich bin nicht Ihr Freund […], auch nicht Ihr Kumpan. Oder Ihr Beschützer. Ich habe nur getan, was meine Pflicht ist.“ (SuH 345). Sein Einsatz wirkt auf einmal nur noch pro forma, pflichtschuldig ohne menschliches Interesse. Dieser Eindruck wiederum wird revidiert, wenn man liest, dass Gamboa in Gedanken an seine hochschwangere Frau ist, also im eigentlichen Sinn Vater wird. Dem schließt sich noch eine Volte an: Er wünscht sich einen Sohn, und als er das Telegramm von der Geburt eines Mädchens erhält, setzt er einen Blick auf, dass der diensthabende Offizier ihn fragt, ob es schlechte Nachrichten gebe.

Diese letzten beiden Kontrapunkte sind besonders effektvoll gestaltet. Es liegt eine beißende Ironie darin, dass der Offizier Gamboa in dem Moment ein Kind erwartet, als es um den Tod eines Jungen geht. Dass er sich nicht freut, weil es eine Tochter ist, eröffnet sich dem Leser nur indirekt, stückweise: Zunächst wird nur Gamboas starre Reaktion auf das Telegramm, aber nicht dessen Inhalt beschrieben. Diesen erfahren wir erst, nachdem der Offizier das in der Hemdtasche verwahrte Telegramm aus Versehen zusammen mit einer Notiz des Kadetten Jaguar herauszieht, zerreißt und wegwirft. Jaguar sammelt die Papierstreifen auf und hält sie zusammen: „Überrascht stellte er fest, dass es zwei Zettel waren, noch einer außer der Heftseite, auf die er geschrieben hatte: ‚Teniente Gamboa: Ich habe den Sklaven getötet. Sie können davon Meldung machen und mich dem Coronel vorführen.‘ Die beiden anderen Hälften waren ein Telegramm: ‚ Vor zwei Stunden Mädchen geboren. Rosa geht es gut. Glückwünsche. Brief folgt. Andres.'“ (SuH 401 f.). Aufs engste, geradezu physisch, werden so Mord und Geburt miteinander verquickt. Die Engführung extremer Gegensätze begegnet in Vargas Llosas weiteren Romanen wieder, wie explosive Mischungen.

Beredtes Verschweigen

Zu Vargas Llosas Repertoire wird auch der hier angewendete Kniff des Erzählers, eine wesentliche Information zu unterschlagen (dato escondido) – eine Kunst, etwas wirkungsvoller werden zu lassen, indem man es gar nicht ausspricht (elliptische Information) oder erst später offenbart (unterschlagene Information durch Umstellung).9 Weil der Telegramminhalt zunächst verborgen bleibt, wird der Leser angestachelt, ihn sich selbst auszumalen, beispielsweise könnte er vermuten, dass es zu einer Fehlgeburt kam. Hier erfolgt die Aufklärung nach wenigen Seiten. Die Frage, ob der Kadett umgebracht wurde und wenn ja von wem, bleibt dagegen dauerhaft unbeantwortet, zumindest wird sie nicht eindeutig beantwortet. Es gibt allerdings eine Szene, in der – wiederum durch vielsagendes Auslassen – eine Richtung vorgegeben wird. Die Generäle thematisieren bei ihrer Unterredung über die Ursachen des tödlichen Schusses zwei Möglichkeiten: entweder hat der Junge beim unglücklichen Sturz auf sein Gewehr die Kugel selbst ausgelöst, oder ein Kamerad aus der Nachhut traf ihn aus Versehen. Der Capitán verwirft die zweite Erklärung mit den Worten: „Ich möchte sogar behaupten, dass der Schluss aus dem Gewehr des Kadetten selbst stammt. Wenn man auf Scheiben zielt, die in einer Höhe von mehrerern Metern über dem Terrain liegen, kann ein Geschoss nicht so sehr abweichen […]“ (SuH S. 262 f.). Hieraus wäre eigentlich der Schluss zu ziehen, dass der Schuss eines Dritten nicht aus Versehen, sondern absichtlich erfolgt sein muss. Genau diese Variante sparen die Gesprächsteilnehmer aber aus, weshalb es an dem Leser ist, den unheilvollen Gedanken selbst zu fassen.

  1. La morada de heroe spielt auf das nach dem Kriegshelden Leoncio Prado benannte Internat an, Los impostores bezieht sich auf das von Sartre stammende Epigraf des Romans. Beide überzeugten den Autor aber nicht, Oviedo, ein Literaturkritiker und ein Freund aus Studentenzeiten, dem Schriftsteller drei andere Titel vor, von denen ihm Die Stadt und die Hunde sofort zusagte. Hierzu José Miguel Oviedo: La ciudad y los perros: 40 años despues. In: Derselbe: Dossier Vargas Llosa, Taurus, Lima: 2007. ↩︎
  2. Hierzu Sergio Vilela Galván: El Cadete Vargas Llosa. 2003. S. 177 ff. ↩︎
  3. Hierzu Sabine Köllman: A companian to Mario Vargas Llosa. S. 95 ↩︎
  4. Beispielsweise: „Der Offizier sieht dem Kadetten prüfend ins Gesicht. Alberto stellt fest, dass die Augen der Kröte auf einmal lebendig geworden sind; die Pupillen, sowie zwei sterbende Sterne umherflatterten, verraten Misstrauen und Verblüffung.“ (SuH 17) – „Der Teniente hält die Arme in die Seite gestemmt. Dann lässt er die Hände sinken; einen Augenblick lang pendeln sie an seinem Körper hin und herr, ehe so unbeweglich herabhängen. Er geht auf das Bataillon zu; sein mageres dunkelbraunes Gesicht ist hart geworden.“ (SuH 41) – „Seine lebhaften Augen rollten wie Stahlkugeln in einem magnetisierten Kreis.“ (SuH 111) – „Alberto stellte überrascht fest, dass jenes andere Gesicht, das er während der letzten Wochen in der Schule so oft heraufbeschworen hat, eine Entschlossenheit besitzt, die das Gesicht jetzt vor ihm gar nicht hat. Es ist das Gesicht, das er im Metro glaubte gesehen zu haben, und dann auf der anderern Seite der Türschwelle, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, ein schüchternes Gesicht mit furchtsamen Augen, die den seinen ausweicht, dessen Lieder sich öffnen und schließen, als fiele die Sommersonne auf sie. Teresa lächelt und ist verlegen. Sie faltet und löst die Hände, lässt sie herabhängen und sucht Halt an der Wand.“ (SuH 164) – „[…] das Mädchen, das er verehrt, ist kokett und spröde: ganz Miraflores hat sich in ihren grünen Augen erblickt, über die der Schatten ihrer langen und seidigen Wimpern fällt […] Der Parque Salazar ist voller Menschen. Sobald sie ihn betreten haben […] bekommen ihre Gesichter einene anderen Ausdruck: ihre Münde öffnen sich leicht, auf den Wangen entstehen Grübchen, ihre Augen funkeln, die Pupillen werden lebendig, und alles ist zusammengefasst in einem diskreten Lächeln, das sich in nichts vom Lächeln derer unterscheidet, die ihnen entgegenkommen […]“ (SuH 233) – „‚Kein Wunder, dass im Fünften Jahr noch solche Unfälle passieren‘, tobte der Coronel und ballte wieder die Faust. Aber es war ein rosige, kleine Faust, die wenig Respekt einflösste.“ (SuH 259) – „Die Stirn des Capitáns war feucht geworden, und in jedem seiner Augen flackerte ein gelbliches Licht. Seine Hände klatschten zorning auf die Schreibtischplatte. Sein Schläfen zuckten. Plötzlich kehrte in seinem Körper alles an seinem Ort zurück. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er dem Blick des Capitáns stand. Gleich darauf sah er, dass der Offizier wegblickte“ (SuH 312). ↩︎
  5. Hierzu ausführlich Joel Hancock: Técnica de animalizacíon y claroscruro: el lenguaje descriptivo de „La ciudad y los perros“. In: José Miguel Oviedo(Hg.): Mario Varags Llosas. El escritor y la critica. 1981, S. 69-79. ↩︎
  6. Die anderen beiden sind die Verschachtelung von einer Erzählung in der anderen (‚Chinesische Kästchen‘) und der qualitative Sprung von objekter, realistischer Darstellung in eine subjektive, irreale (‚Häutung‘). MVLL: La novela, 1968. ↩︎
  7. Zur Perspektivenvielfalt und Dialogtechnik José Miguel Oviedo: Mario Vargas llosa: la invención de una realidad, S. 124 ff. ↩︎
  8. Vgl. Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Eine Einführung. S. 16 ff. ↩︎
  9. Vgl. entsprechendes Kapitel in MVLL: Briefe an einen jungen Schriftsteller. Suhrkamp 2004. Inspiriert wurde der Peruaner zu diesem narrativen Mittel insbsondere durch Hemmingway. Ansätze gibt es schon in Den Anführern . ↩︎

Das erste Buch von Mario Vargas Llosa besteht aus sechs Geschichten, die er während seiner Studentenzeit in Lima geschrieben hat und mit denen er 1958 den Literaturwettbewerb Leopoldo Alas in Barcelona gewann, woraufhin sie 1959 gedruckt wurden. Die titelgebende mit dem Namen Die Anführer erschien bereits im Februar 1957 im Mecurio Peruano, nachdem sie der junge Autor erfolglos bei einem Erzählwettbewerb der San-Marcos-Universität eingereicht und daraufhin überarbeitet hatte. Danach verfasste er das Stück Die Herausforderung, um gegen Ende 1957 bei einem Literaturwettbewerb der Revue Francaise teilzunehmen und zu gewinnen. Von den anderen vier Erzählungen kennen wir nicht die genaue Entstehungszeit, doch spricht ihre Machart dafür, dass sie Vargas Llosa nach den beiden erstgenannten schrieb. Andererseits relativiert sich die Frage, weil der Autor seine Texte fortlaufend bis zur Veröffentlichung umschrieb.1

Impressionistische Verrätselung

Das Geschehen in der Kurzgeschichte Die Anführer bleibt noch dicht am biographischen Substrat: Der Abschlussjahrgang des Salesianer-Kollegs in Piura versucht einen Schulstreik anzuzetteln, um die Schulleitung dazu zu bringen, Prüfungstermine wieder frühzeitig bekanntzugeben. Nachdem diese nicht einlenkt, erkühnen sich einige Rädelsführer, beim Direktor vorzusprechen – ebenfalls vergeblich. Überlagert wird der Konflikt von der Konkurrenz unter den Pennälern um das beste Ansehen als Anführer. All das hat Vargas Llosa als Schüler erlebt. Den biographischen Bezug sucht er, nachdem ihm bei früheren Texten aufgegangen ist, dass unpersönliche (zeitlose, allgemeine) Themen nicht funktionieren. Die Nähe der Erzählung zum tatsächlich Erlebtem ist zugleich aber ihre Schwäche, denn die Wirklichkeit folgt (wie so oft) keiner Dramaturgie. Der Handlungsbogen ist spannungsarm. Wie um dies zu kompensieren, arbeitet die Erzählung mit Verrätselung, die beim Lesen so etwas wie Spannung erzeugt, die sich durch Auflösung entlädt. Und für die Verrätselung sorgt eine impressionistische Darstellung aus Ich-Perspektive: Aus der stark subjektiven Wiedergabe von Sinneseindrücken erschließt sich auf Anhieb nicht, wo man sich befindet, wer spricht und wer angesprochen wird. Der Anfang lautet so:

Javier war eine Sekunde zu früh.

„Es läutet! “ rief er, schon stehend. Die Spannung entlud sich, heftig, wie eine Explosion. Alle hatten wir uns erhoben: Dr. Abasalo stand der Mund offen. Er wurde rot, ballte die Fäuste. Als er sich wieder gefasst hatte und eine Hand hob und er sich anzuschicken schien, eine Rede vom Stapel zu lassen, läutete es tatsächlich. Wir rannten lärmend hinaus, wie von Sinnen, gehetzt vom Rabengekrächze Amayas, der im Voranstürmen Pulte umwarf. Der Hof wurde von Schreien erschüttert. Die aus der Vierten und Dritten waren eher rausgegangen, sie bildeten einen großen Kreis, der unter dem Staub hin und her wogte. Fast gleichzeitig mit uns kamen die aus dem Ersten und Zweiten in den Hof; sie brachten neue aggressive Sätze mit, mehr Hass. Der Kreis wuchs. Die Empörung war einhellig in der Mittelstufe. (Die Unterstufe hatten einen kleinen Hof mit blauen Mosaiken, am entgegengesetzten Flügel der Schule.)

„Er will uns zur Sau machen, der Indio.“

„Ja, verdammter Mist.“

Keiner sprach von den Schlussexamen. Die funkelnden, Pupillen, das Geschrei, der Aufruhr deuteten darauf hin, dass der Augenblick gekommen war, sich gegen den Direktor zu stellen.2

Wie hier dominieren in vielen Szenen akustische Reize – neben visuellen, die wiederum in wenigen Fällen über sich hinausweisen, also sinnbildlich werden, etwa wenn sich am Himmel ein Unheil abzuzeichnen scheint:

Die Schreie wurden lauter. Aber weder der Takt unserer Schritte noch das anfeuernde Gekreische konnten verbergen, dass uns bange war. Dieses Warten war beängstigend. Warum dauerte es so lange, bis er herauskam? Wir gaben uns noch immer mutig, wiederholten den Ruf, aber jetzt warfen sie einander Blicke zu, und hier und da war lautes forciertes Gekichere zu hören. ‚Ich darf an nichts denken‘, sagte ich zu mir. ‚Jetzt nicht.‘ Das Schreien kostete mich schon Mühe, ich war heiser, mein Hals brannte. Plötzlich, fast unbewusst, blickte ich in den Himmel: Ich verfolgte einen Geier, der sanft über der Schule schwebte, unter einem blauen, makellosen, hohen Gewölbe, erleuchtet von einer gelben Scheibe auf einer Seite, wie ein Leberfleck. Rasch senkte ich den Kopf.3

Plot mit Klimax und tragischer Pointe

Die zweite Kurzgeschichte Die Herausforderung spielt ebenfalls in Piura und zehrt insofern wie Die Anführer von persönlichen Anschauungen des Schriftstellers. Die Handlung jedoch dürfte diesmal im Wesentlichen erfunden sein, und zwar zugunsten eines spannenden Verlaufs: Zwei Männer haben sich zum Messerduell verabredet, begleitet von ihren Kameraden, die den Kampf beobachten und erleben, dass der eine verblutet. Der Plot entspricht einem geradezu klassischen Modell aus Exposition, Klimax und tragischem Ende, bei dem sich herausstellt, dass einer der Begleiter nicht ein Freund als vielmehr der Vater des tödlich Verletzten ist. Eine wesentliche Information vorzuenthalten (oder ganz unterschlagen) wird Vargas Llosa später unter dem Begriff „dato escondido“ in seinen narrativen Werkzeugkasten aufnehmen.

Wie bei der ersten Geschichte wird aus der Ich-Perspektive einer der Freunde erzählt, doch geschieht dies weniger subjektiv und diffus, wie schon der Einstieg zeigt:

Wir tranken gerade Bier, wie jeden Samstag, als Leonidas in der Tür der „Rio Bar“ erschien; an seinem Gesicht bemerkten wir sofort, dass irgend etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte León.

Leonidas zog sich einen Stuhl heran und setze sich zu uns:

„Ich sterbe vor Durst.“

Ich goss ihm ein Glas randvoll ein, und der Schaum floss über auf den Tisch. Leonidas blies langsam und schaute nachdenklich zu, wie die Blasen zerplatzten. Dann trank er das Glas in einem Zug aus.

„Justo wird heute abend kämpfen“, sagte er mit merkwürdiger Stimme.

Schon im ersten Satz wird der Leser über den Handlungsort orientiert und im weiteren wird das Personal verständlich eingeführt. Akustische Impressionen spielen in dieser Erzählung weniger eine Rolle als optische, und diese überschwemmen nicht wie in den Anführern die Schilderung, sondern werden ihr untergeordnet. Man könnte auch sagen: Weil die Handlung spannend ist, bedarf es der Verrätselung nicht mehr.

Eine, zwei, vielleicht drei Sekunden lang hielten wir den Atem an und sahen die Riesengestalt der zwei umklammerten Kämpfer und hörten ein kurzes Geräusch, das erste, das wir während des Kampfes vernahmen, etwas wie ein Rülpsen. Einen Augenblick darauf tauchte an der einen Seite des enormen Schattens ein anderer auf, kleiner und schlanker, der mit zwei Sprüngen wieder eine unsichtbare Mauer zwischen den Kämpfern errichtete. Dieses Mal begann der Hinkefuß zu kreisen. Er bewegte seinen rechten Fuß und zog den linken nach. Ich bemühte mich vergeblich, mit meinen Augen das Halbdunkel zu durchdringen und auf Justos Haut zu lesen, was in diesen drei Sekunden geschehen war, in denen die Gegner, umschlungen wie zwei Liebende, einen einzigen Körper gebildet hatten.

Auffällig ist hier der paradoxe Vergleich der sich hassenden Kämpfer mit einem Liebespaar. Gleichwohl ist auch diese Erzählung sparsam damit, Bilder mit Bedeutung aufzuladen; diese weisen nur selten oder nur schwach über sich hinaus. So könnte man Leonidas‘ Blick auf die zerplatzenden Bierblasen in der Eingangsszene als Vorausdeutung dafür sehen, dass später ein Leben ausgelöscht wird.

Zeichen und Symbole

Die beiden Erzählungen sind also nur in Ansätzen sinnbildlich. Das ändert sich mit der dritten Geschichte Der jüngere Bruder. Sie beginnt so:

Am Wegrand lag ein riesiger Stein, und auf ihm saß eine Kröte; David zielte sorgfältig auf sie.

„Schieß nicht“, sagte Juan.

David ließ die Waffe sinken und schaute seinen Bruder verwundert an.

„Er kann die Schüsse hören“, sagt Juan.

„Spinnst du? Der Wasserfall ist fünfzig Kilometer entfernt.“

„Vielleicht ist er nicht am Wasserfall“, beharrte Juan, „sondern in den Höhlen.“

„Nein“, sagte David. „Außerdem, selbst wenn er da wäre, würde er nie denken, dass wir das sind.“

Die Kröte saß noch immer da, sie atmete ruhig mit ihrem gewaltigen offenen Maul und beobachtete David hinter ihrer Augenbutter mit einem gewissen ungesunden Ausdruck. David hob den Revolver von neuem, zielte lange und schoss.

Sie näherten sich dem Stein. Ein kleiner grüner Fleck verriet die Stelle, an der die Kröte gesessen hatte.

Die Szene ist zeichenhaft, indem sie vorwegnimmt, was später geschieht: Die Brüder werden einen von ihrer Hacienda geflohenen Indio erschießen. Zudem ist hier eine Farbsymbolik angelegt, die sich im späteren Werk Vargas Llosas noch entfalten wird: Das Grün als Zeichen des Urwalds und der indigenen Traditionen im Osten und im Hochland Perus – Gegensatz zu den Gelbtönen der Wüstenregionen an der im geographischen wie übertragenen Sinne westlichen Küste, wo sich Städte wie Piura und Lima befinden. Die Flucht des indigenen Landarbeiters aus dem trockenen Flachland an einen Wasserfall fügt sich in dieses Muster ein. Die Geschichte ist, was ihre Topographie angeht, immer noch biographisch grundiert – eine Baumwoll-Plantage bei Piura lernte Vargas Llosa über seinem Onkel Lucho kennen –, doch dient dies nun dazu dazu, kulturelle und ethnische Gegensätze zu symbolisieren, die wiederum den Rassismus in zerrissenen Gesellschaften wie der peruanischen bedingen.

Wie bei der Herausforderung haben wir es mit einem spannungsgeladenen Plot zu tun, bei dem die Fallhöhe allerdings größer ist: Statt um ein zwar tödliches, aber immerhin einvernehmlich verabredetes Duell geht es nun um Verfolgung und Mord. Dem Höhepunkt folgt wieder eine Überraschung mit tragischem Effekt: Die Brüder bestrafen den Indio, weil er sich angeblich an ihrer Schwester vergangen hat. Als die beiden nach der Tat heimkehren, fleht diese sie an, den Mann in Ruhe zulassen, denn sie hat den Vorwurf nur erfunden. Der ältere Bruder lässt sie im Glauben, dass sie den Verfolgten nicht gefunden hätten (und setzt insofern das Lügen fort), während der jüngere mit den Verhältnissen brechen will. Doch das Pferd, auf dem er sich anschickt den Gutshof in Richtung Stadt zu verlassen, gehorcht ihm nicht und droht ihn, den unerfahrenen Reiter, abzuwerfen. Da erlangt er plötzlich Sicherheit auf dem Ross und wendet es zu einer Hütte, in der Indios gefangen sind, steigt ab und sprengt das Schloss auf. Die Szene, mit der die Geschichte endet, wirkt weniger realistisch als sinnbildlich: ein Exempel dafür, vor dem Unrecht nicht wegzulaufen, sondern etwas dagegen zu unternehmen.

Plastische Monologe und Gesprächsdynamik

Von einem Todeskampf, obgleich nicht im kriminellen Sinne, erzählt auch die Geschichte Sonntag. Protagonist und Antagonist sind zwei junge Männer. Ihr Konflikt entzündet sich dadurch, dass Miguel auf dem Heimweg nach der Filmmatinee Flora (Name eines Mädchens, für das Vargas Llosa als 15-Jähriger geschwärmt) seine Liebe erklärt, aus ihrer Reaktion aber ableitet, dass der Frauenheld Rubén (auch dieser Name ist identisch mit einem realen Person aus dem Freundeskreis) sie ausspannt. Am selben Nachmittag trifft er ihn am Stammtisch seiner Clique und fordert ihn erst zum Litertrinken heraus, bevor Rubén wiederum Miguel zum Wettschwimmen im Meer auffordert. Der Sommer ist vorbei und die Brandung gefährlich. Sie stürzen sich dennoch in die Fluten. Obwohl Miguel unterlegen erscheint und, schwer alkoholisiert, Todesangst im kalten Wasser bekommt, gewinnt er, weil es Rubén noch schlechter ergeht und er ihn retten muss.

Vargas Llosa situiert die Geschichte in Lima-Miraflores und kann ihr damit aus seinen Jugenderlebnissen viel Lokalkolorit verleihen. Er war damals selbst ein passionierter Schwimmer und vermag schon daher, den Kampf mit den Wellen authentisch zu erzählen. Die Geschichte sticht aber nicht nur deswegen hervor. Vergleicht man sie mit der Herausforderung, die ja ebenfalls einen Wettkampf auf Leben und Tod in einem Lebensort des Autors erzählt, fällt auf, dass die Figuren plastischer sind. Und das liegt zum einen an der Qualität innerer Monologe. In den bisherigen Erzählungen sind die Gedanken der Ich-Erzähler hauptsächlich Wiedergabe äußerer Eindrücke. Das ist nun anders. Miguels Gedanken, an denen wir als Leser teilhaben, sind ausformulierte Selbstgespräche, verwoben mit den Regungen seiner Gefühle und Signalen seines Körpers. Die Figur gewinnt an Fülle, weil alle drei Dimensionen – Geist, Leib und Seele – zum Ausdruck kommen, als er sich Flora erklären will oder während er mit den Wellen ringt:

Noch vor wenigen Minuten, in der lebhaften und fröhlichen Menge, die im Parque Central von Miraflores spazierenging, hatte Miguel sich immer wieder gesagt: ‚Jetzt. Wenn wir zur Avenida Pardo kommen. Ich werde es wagen. Oh, Rubén, wenn du wüsstest, wie ich dich hasse!‘ (…) Die Leute blieben im Park und die Avenida Pardo war menschenleer; sie gingen durch die Allee unter den Gummibäumen mit den hohen und dichten Kronen entlang. ‚Ich muss mich beeilen‘, dachte Miguel, ’sonst bin ich verloren.‘ Er sah sich verstohlen um: niemand war zu sehen, er konnte es versuchen. Langsam streckte er seine linke Hand aus, bis er ihre berührte. Dabei merkte er, dass er schwitzte. Er flehte, es möge ein Wunder geschehen, diese Demütigung möge aufhören. ‚Was sage ich zu ihr‘, dachte er. ‚Was sage ich nur?‘4

Er hielt inne, sein Körper sank sofort, bis er vertikal im Wasser hing. Er hob den Kopf und sah, wie Rubén davonschwamm. Er wollte ihn unter irgendeinem Vorwand rufen, ihm zum Beispiel sagen, „warum ruhen wir nicht einen Augenblick aus“, aber er tat es nicht. Die ganze Kälte seines Körpers schien sich in seinen Waden zu konzentrieren. Er fühlte, wie verkrampft die Muskeln waren, die Haut angespannt, das Herz schlug wie wild. Fieberhaft bewegte er die Füße (…) Er sah nur ein kurzes Stück der Wasseroberfläche, grün-schwarz, und eine Mantel aus Wolken über dem Wasser. Da bekam er Angst. Die Erinnerung an all das Bier, das er getrunken hatte, überfiel ihn, und er dachte: ‚Das muss mich ziemlich geschwächt haben.‘ Sofort kam es ihm vor, als verwänden seine Arme und Beine. Er beschloss umzukehren, aber nach einigen Zügen in Richtung auf den Strand drehte er um und schwamm so leicht er konnte. ‚Allein erreiche ich das Ufer nie‘, sagte er sich, ‚ es ist besser, in Rubéns Nähe zu bleiben. Wenn ich nicht mehr kann, sage ich ihm: Du hast gewonnen, aber lass uns umkehren.‘5

Auch die Dialoge und Gespräche haben eine bessere Qualität als in den bisherigen Erzählungen, in denen sich die Äußerungen zwischen den Figuren meist auf lakonische Wortwechsel beschränken. Nun erleben wir, insbesondere beim Beisammensein in der Kneipe, ein verbales Zuspiel, das die Handlung vorantreibt und die Charaktere hervortreten lässt. Unter den Jungen sind Provokation und Prahlerei angesagt: Machotum im Wortgefecht.

„Der ist überhaupt kein Champion“, sagte Miguel mühsam. „Das ist alles nur Pose.“

„Du bist doch schon hin“, sagte Rubén. „Soll ich dich nach Hause bringen, Kleines?“

„Ich bin nicht betrunken“, versicherte Miguel. „Und bei dir ist alles reine Pose.“

„Du bist doch nur wütend, weil ich Flora aufs Kreuz legen werde“, sagte Rubén. „Du stirbst fast vor Eifersucht. Denkst du, ich hätte nichts bemerkt?“

„Reine Pose“, sagte Miguel. „Du hast gewonnen, weil dein Vater Verbandspräsident ist, alle wissen, dass er gemogelt hat, dass er das Kaninchen Villarán disqualifiziert hat, nur darum hast du gewonnen.“

„Jedenfalls schwimme ich besser als jeder andere“, sagt Rubén. „Du kannst ja nicht einmal Wellenreiten.“

„Du schwimmst nicht besser als jeder andere“, sagte Miguel. „Jeder kann dich besiegen.“

„Jeder“, sagte Melanés. „Sogar Miguel, und der ist ein Stümper.“

„Erlaubt mir, dass ich grinse“, sagte Rubén.

„Wir erlauben es dir“, sagte Tobias. „Aber klar doch.“

„Ihr seid mir über, weil Winter ist“, sagte Rubén. „Sonst würde ich euch auffordern, mit mir an den Strand zu gehen, und dann würden wir sehen, ob ihr im Wasser auch so mutig seid.“

„Du hast den Wettbewerb nur wegen deines Vaters gewonnen“, sagte Miguel. „Bei dir ist alles reine Pose. Wenn du mit mir schwimmen willst, sag Bescheid, ohne jede Rücksichtnahme. Am Strand, beim Club Terrazas, wo du willst.“

„Am Strand“, sagte Rubén. „Jetzt, sofort.“

„Alles reine Pose“, sagte Miguel.

Rubéns Gesicht leuchtete plötzlich auf, und seine Augen wurden nicht nur rachsüchtig, sondern auch arrogant. (…)

„Raubvögel“, sagte Rubén und breitete die Arme aus, „ich fordere ihn heraus.“ 6

Ironie und Zynismus

In dem Erzählband folgt das Stück Ein Besucher, das nicht nur mit Blick auf sein Milieu, nämlich dem Eintreffen eines Ex-Häftlings namens Jamaiquino in eine verlassene Schenke in den Sanddünen, an die früheren Geschichten aus Piura erinnert. Sie entbehrt zudem eines Blicks ins Figureninnere, und die Dialoge sind wie zuvor sparsam. Rhetorisch entwickeln sie sich jedoch weiter, indem sich die Ironie verstärkt und zum Zynismus steigert. Der Ankömmling an der Schenke sagt:

„Danke, Señora Merceditas. Sie sind sehr gütig. Wie immer. Wollen Sie mich nicht begleiten?“

„Wozu?“ Die Frau betrachtet ihn argwöhnisch; sie ist dick und nicht mehr die jüngste, aber ihre Haut ist glatt; sie geht barfuß. „Du kennst den Ausschank ja.“

„Ach“, sagt der Mann in freundlichem Ton. „Ich esse nicht gern allein. Das macht traurig.“

Die Frau zögert einen Augenblick. Dann geht sie mit schlurfenden Schritten durch den Sand auf den Ausschank zu. Sie geht hinein. Sie öffnet eine Bierflasche.

„Danke, vielen Dank, Señora Merceditas. Aber ich möchte liebe Milch. Da Sie die Flasche nun mal aufgemacht haben, warum trinken Sie sie nicht?“

„Ich hab‘ keine Lust.“

„Kommen Sie, Señora Merceditas, seien Sie doch nicht so. Trinken Sie sie auf mein Wohl.“

„Ich will nicht.“

Die Miene des Mannes wird ärgerlich.

„Sind Sie taub?“ Ich habe gesagt, Sie sollen dieses Bier trinken. Prost!“

Die Frau hebt die Flasche mit den Händen und trinkt langsamen, mit kleinen Schlucken.

(…) Der Mann sagt immer wieder „Prost!“, bis vier leere Flaschen auf der Theke stehen. Die Frau hat glasige Augen; sie rülpst, spukt aus, setzt sich auf einen Obstsack.

„Mein Gott“, sagt der Mann. „Was für eine Frau! Sie sind eine kleine Säuferin, Señora Merceditas. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das sage.“7

Auch diese Geschichte endet mit einer Pointe, die man wiederum ironisch nennen kann: Der die ganze Zeit über dominant agierende Jamaiquino wird selbst hereingelegt und von der Polizei, der er einen Kumpanen zugeführt hat, mit einer zynischen Bemerkung in der Wüste zurückgelassen, wo er der Rache anderer anheimfallen wird.

„Hören Sie, Leutnant, und wer nimmt mich mit?“

„Dich?“ sagt der Leutnant, mit einem Fuß im Steigbügel. „Dich?“

„Ja“, sagt der Jamaiquino. „Wen sonst?“

„Du bist frei“, sagt der Leutnant. „Du brauchst nicht mit uns zu kommen. Du kannst gehen, wohin du willst.“

Lituma und die anderen Gendarmen lachen, auf den Pferden sitzend.8

Der hier fallende Polizistenname wird dem Leser in Vargas Llosas späteren Romanen wieder begegnen.

Dämonen

Die Schlussgeschichte dieses Bandes ist die kürzeste. Das sich durch die Erzählungen ziehende Todesthema erscheint hier einerseits faktisch harmloser, andererseits psychologisch abgründiger. Ein alter Mann poliert einen am Straßenrand entdeckten Totenkopf und postiert diesen zusammen mit einer brennenden Kerze im Garten (wobei der Schädel Feuer fängt), um seinen in der Abenddämmerung herumtollenden Enkel zu erschrecken. Warum er das tut bleibt dunkel: Den Plan fasst der Großvater, als er sich beim Anblick eines leeres Taubenschlags daran erinnert, wie ihm früher die Jungvögel aus der Hand fraßen und die Augen verdrehten, wenn er plötzlich zudrückte. Der Einfall, dem Enkelkind mit einem Totenkopf Angst einzujagen, ist daher nicht nur für sich genommen dämonisch, sondern auch was seine Ursache angeht: eine Wahnidee infolge einer tiefsitzenden Prägung. Für Vargas Llosa sind Dämonen im Sinne seelischer Obsessionen wesentlicher Antrieb für das Schaffen von Literatur. Insofern könnte man in dieser Kurzgeschichte eine Metapher fürs Schriftstellertum erblicken: der Großvater, welcher aus dem Schatten des Gartens die Familie seines Sohnes beobachtet und einen Dämon mit sich trägt, entspräche dem Poeten als einem Sonderling am Rande des bürgerlichen Lebens. Diese Deutung des entflammten Schädels würde auch zu Vargas Llosas berühmt gewordenem Ausruf: Literatur ist Feuer! passen. Eine gegenteilige Interpretation wäre indes, den Alten als Vertreter des Establishments zu sehen (hierfür spricht seine Mitgliedschaft im Herrenclub)9 und dass sich hier ein Muster aus den vorangegangen Geschichten fortsetzt: die Konstellation aus Anführer und Gefolge, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Brüder.10 Angeregt ist die Geschichte von Schauerliteratur des Autors Paul Bowles, die Vargas Llosa in einer Phase seiner Studentenzeit in Lima las, als er sich mit Freunden zu Geisterbeschwörungen traf oder nachts auf dem Friedhof von Surco Edgar Alan Poe huldigt.11

Malerisches Erzählen

Ungeachtet ihres (möglicherweise) sinnbildlichen Charakters ist die Begebenheit realistisch erzählt. Beim Einstieg werden fast alle Register der Sinneswahrnehmung – Hören, Sehen, Riechen, taktiles Empfinden – gezogen, ohne dass sich wie bei den anderen Stücken ein impressionistisches Durcheinander ergibt:

Jedesmal, wenn ein Zweig raschelte oder ein Frosch quakte oder die Fensterscheiben der Küche im hinteren Teil des Gartens vibrierten, erhob sich der kleine Alte behende von seinem improvisierten Sitz, einem flachen Stein, und spähte erwartungsvoll durch das Blattwerk. Aber der Junge kam noch nicht. Durch die Fenster des Esszimmers, die sich zur Pergola hin öffneten, sah er hingegen die Lichter des seit einer Weile brennenden Kronleuchters und darunter verschwommene Schatten, die hin und her glitten, hinter den Vorhängen, langsam. (…) Er kehrte zu seinem Sitz zurück und wartete. In der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und der Erde und den Blumen entstieg ein angenehmer Geruch nach Feuchtigkeit. Aber die Insekten wimmelten, und Don Eulogios verzweifeltes Herumfuchteln um sein Gesicht vermochte sie nicht zu verjagen. Auf sein zitterndes Kinn, seine Stirn und sogar auf die Wölbungen seiner Augenlider trafen jeden Augenblick unsichtbare Stachel und stachen ihm ins Fleisch. Die Begeisterung und die Erregung, die seinen Körper während des Tages in fieberhafter Bereitschaft gehalten hatten, waren schwächer geworden und jetzt empfand er Müdigkeit und leichte Traurigkeit (…) Von nervösem Zittern geschüttelt, wandte er den Kopf und erriet zwischen den Beeten mit Chryanthemen, Narden und Rosenstöcken den winzigen Pfad, der unter Umgehung des Taubenschlags zur hinteren Pforte führte.12

Vargas Llosa hat mit diesem sensualistischen, malerischen Erzählen einen Modus gefunden, von dem seine folgenden Romane profitieren werden. Sie führen die in diesem Prosaband angelegten Motive und Formen fort – Rivalität, Machtgefälle und Machotum, Lüge und Zynismus, Rassismus, Liebesleid sowie impressionistische Szenen oder der Aufschub wesentlicher Informationen mit pointenhafter Auflösung. Auch die von Vargas Llosa als „kommunizierende Röhren“ bezeichnete Verschränkung wörtlicher Rede unterschiedlicher Herkunft ist bei den frühen Erzählungen im Ansatz vorhanden.13 Dasselbe gilt für die Figurenebene, auf der sich für das Romanwerk typische Gegensatzpaare aus Verräter und Freund, Anführer und Mitläufer, Etablierter und Außenseiter abzeichnen. 14

  1. José Miguel Oviedo: Mario Vargas Llosas. Invencion de una realidad. Seix Barral, 1982. S. 70 ff. Auch nach der Erstausgabe wurden Änderungen vorgenommnen, etwa an den Titeln der Geschichten, und das ursprünglich nicht enthalte Stück „Der Großvater“ kam hinzu (s. dort S. 85 f.) Letzters erschien zuvor in der Sonntagsbeilage von El Comercio im Dezember 1956 (s. dort S. 26). ↩︎
  2. Mario Vargas Llosa: Die Anführer. Erzählungen. Übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp, 1995. S. 7 (AN). ↩︎
  3. Ebenda S. S. 9 f. ↩︎
  4. Ebenda S. 76 f. ↩︎
  5. Ebenda. S. 97 f. ↩︎
  6. Ebenda S. 87 f. ↩︎
  7. Ebenda S. 105 ff. ↩︎
  8. Ebenda S. 115. ↩︎
  9. Vgl. Ovideo, 1982, S. 89. ↩︎
  10. Vgl. Sabine Köllmann: A companion to Mario Vargas Llosa. Tamesis, 2014, S. 84. ↩︎
  11. MVLL im Vorwort zur englischen Ausgabe seiner Erzählsammmung: The Cubs an Other Stories, S. XV f. ↩︎
  12. AN S. 117 f. ↩︎
  13. Und zwar, wenn in der Heraussforderung Justo seinen Freunden vom vorangegangen Gespräch mit seinem Kontrahenten erzählt. ↩︎
  14. Vgl. Köllmann, 2014, S. 85. ↩︎

Mario Vargas Llosa gehört zu jener Generation und Sorte von Schriftstellern, denen Literatur mehr ist als Bespiegelung privater bzw. beliebiger Phänomene, sondern Anwältin allgemein wichtiger Anliegen. Das zeigt auch sein achtzehnter Roman „Cinco esquinas“ mit dem deutschen Titel „Die Enthüllung“.