Sein drittes Prosawerk beginnt Vargas Llosa noch in Paris im Sommer 1965, um es Ende 1966 in London abzuschließen. Los cachorros (Die jungen Hunde) erscheint sodann in einer mit Fotografien von Xavier Miserachs versehenen Ausgabe bei Lumen in Barcelona, wobei der ursprünglich beabsichtigte Name Pichula Cuéllar (Schwanz Cuéllar) in den Untertitel verbannt wird. Schauplatz und Konflikte dieser im Zeitraffer erzählten Lebensgeschichte sind aus dem Erstlingsroman wohlbekannt: das Aufwachsen von Jungen in Lima-Miraflores in einer gutbürgerlichen Welt, wie sie Vargas Llosa von seinem zehnten Lebensjahr an erlebt hat. Anstoß für die Geschichte ist indes ein Vorfall, von dem der Autor nur aus der Zeitung erfuhr: die Kastration eines Neugeborenen in den Anden durch einen Hund. Seither habe er geträumt von einer Erzählung über eine solche seltsame Wunde, die sich im Gegensatz zu anderen mit der Zeit nicht schließt, sondern weitet, so der Schriftsteller im Vorwort einer späteren Ausgabe. Um die literarische Idee zu verwirklichen, verpflanzt er sie ins Milieu seiner späten Kindheit und Jugend. Allerdings kommt ein biographischer Bezug noch hinzu: Zu den wenigen Schocks seiner Frühkindheit in Bolivien gehört, dass eines Tages die dänische Dogge eines Nachbarn sich von der Kette gelöst hatte und ihm den Hosenboden zerriss. In der Novelle ist es ein Hund derselben Rasse, der im Hof einer Grundschule im Zwinger gehalten wird, doch es einmal schafft, die Kinder bis in die Duschräume zu verfolgen und einem von ihnen den Penis zu zerbeißen.

Cuéllar, dem dies widerfährt, nimmt von da an eine andere Entwicklung als seine Klassenkameraden, wobei er als Zugezogener (auch dies ist eine Parallele zu Vargas Llosas eigener Situation mit zehn, elf Jahren) und Sohn eines einflussreichen Mannes schon vorher eine Sonderstellung hatte. Zunächst ist es Faulheit in der Schule, später kommen Verklemmtheit gegenüber Mädchen, Imponiergehabe und Exzesse wie die zum Tode führende Raserei mit Autos hinzu. Bemerkenswerter Weise überdauert Cuéllars Freundschaft mit den Sitznachbarn seiner Grundschulzeit – Choto, Chingolo, Mañuco und Lalo – die Wandlungen von Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden, obwohl sich seine Eskapaden aufschaukeln. Erst in der Endphase kommt es zum Bruch, als die Freunde heiraten und ihre Verbürgerlichung quasi besiegeln. Zuvor versuchen sie, ihm zu helfen, sich normal zu sozialisieren, und das heißt, eine Freundin zu haben und das Leben zu genießen.

Die Freundschaft und weiter gefasst die Gemeinschaft des Stadtviertels ist denn auch der zweite Beweggrund für dieses Prosastück. Er habe über das barrio schreiben wollen, seinen Charakter, seine Mythen, erklärt Vargas Llosa, und sich entschieden, dass es diese kollektive Instanz sein soll, die die Geschichte erzählt. Er versucht daher die Erzählstimme wie einen Chor zu gestalten, in dem zuweilen Einzelne hervortreten und dann wieder die Gesamtheit zu hören ist,1 und den Text so, dass er eher zu singen als zu lesen sei, weshalb er jede Silbe ebenso sehr nach musikalischen wie narrativen Kriterien ausgewählt habe. Kein anderes Prosawerk Vargas Llosa ist daher so durchgestaltet wie dieses. Zur akustischen Qualität tragen häufige, mitunter lautmalerische Interjektionen bei sowie die Rhythmisierung der Sprache durch Wortwiederholungen, Asyndeta und Parataxen, während der übergangslose Wechsel (also ohne entsprechende Satzzeichen und Inquit-Formeln) zwischen dritter und erster Person, Beschreibung und Figurenrede die Erzählerinstanz verwischt und in einer mehrstimmigen, insofern chorischen, Darbietung aufgehen lässt:

Noch trugen sie kurze Hosen in dem Jahr, noch rauchten wir nicht, Fußball war ihr Lieblingssport, Wellenreiten lernten wir gerade und den Hechtsprung vom Dreimeterbrett im Terrazas, sie waren übermütig, glatthäutig, neugierig, flink, unbändig. In dem Jahr, als Cuéllar an die Champagnat-Schule kam.

Stimmt’s dass ein Neuer kommt, Frater Leoncido?, in die Drei A, Frater? Ja, Frater Leonacido wischte sich die Tolle aus dem Gesicht, Ruhe jetzt.

Eines Morgens kam er, wir waren gerade angetreten, an der Hand seines Papas, und Frater Lucio stellte ihn ans Kopfende der Reihe, weil er noch kleiner war als Rojas, und im Klassenzimmer setzte ihn Frater Leoncio nach hinten zu uns, hier ans freie Pult, junger Mann. Wie hieß er? Cuéllar, und du? Choto, und du? Chingolo, und du? Mañuco, und du? Lalo. Hier aus Miraflores? Ja, seit letztem Monat, vorher habe er in San Antonio gewohnt und jetzt in der Mariscal Castilla, beim Kino Colina.

Die Montage von Sprechakten und Handlungselementen, das Changieren der Erzählperspektive, wie er sie in den Vorgängerromanen entwickelt, setzt Vargas Llosa hier auf noch engerem Raum, nämlich innerhalb von Sätzen oder zwischen kurzen Phrasen ein. Auf die Montage auf Makroebene, also das Durchbrechen der Cronologie in der Szenenfolge oder Sprünge zwischen Orten verzichtet er hingegen. Als mikrostrukturelles Oszillieren kann die Erzählweise ihre Wirkung entfalten, fast ohne die Verständlichkeit zu erschweren, auch dann, wenn sie dahingehend gesteigert wird, dass die Firgurenrede mit beschreibenden Wörten quasi durchlöchert wird, wie bei diesem Flirt zwischen Cuéllar und Teresita:

Er verkündete, dass er studieren wolle: nächstes Jahr schreibe er sich an der Católica ein, und sie, affektiert, wie herrlich, für welchen Beruf?, sie stellte ihre weißen Händchen zur Schau, Anwalt, ihre drallen Fingerchen, ihre langen Nägel, Anwalt?, uiuiui, wie scheußlich!, von Klarlack glänzend, düstere Miene, und er, aber nicht, um so ein Winkeladvokat zu werden, nein, fürs Außenamt, die Torre Tagle, um Diplomat zu werden, helle Freude, Händchen, Augen, Wimpern, und er, ja, der Minister sei ein Freund seines Vaters, der habe schon mit ihm geredet, Diplomat?, Mündchen, uiuiui, wie schön!, und er schmolz dahin, verzehrte sich, natürlich, da sehe man was von der Welt, und sie, ja und eine Party nach der andern: Äuglein.

Dass Cuellár sich in diese Gemeinschaft nicht integrieren kann, liegt nicht nur an seiner körperlich-sexuellen Beschädigung, sondern auch an seelischen, in der Clique negierten, Bedürfnissen. Als seine Freunde ihn auffordern, sich Teresita zu erklären, und falls sie ihm später nicht mehr gefallen sollte, sie durch eine andere Freundin zu ersetzen, entgegnet er, dass ihm diese Sicht widerstrebe, denn er liebe sie wirklich. Während sich hier seine Opposition gegen den banalen Hedonismus und Machismus nur kurz andeutet, wird sie später, nachdem er mit seinen Kumpanen ein Bordell besucht hat, deutlicher: Cuéllar bekommt einen Weinkrampf, und die anderen bedrängen ihn:

nun rück schon raus damit, was sei geschehen, und er, nichts, verdammt, man dürrfe doch mal taurig werden, und sie, weshalb denn, wo das Leben doch ein Jux sei, Kumpel, und er, über so allerlei, und Mañuco, zum Beispiel?, und er, zum Beispiel, dass die Menschen ständig Gott beleidigten, und Lalo, bitte was?, und Choto, er meine sie würden so viel sündigen?, und er, ja zum Beispiel bescheuert, was?, ja, und auch, weil das Leben so erbärmlich sei. Und Chingolo, was heißt erbärmlich, Mann, ein Jux war’s, und er, weil man nichts andres tue, als arbeiten, saufen oder einen draufmachen, jeden Tag das Gleiche, und plötzlich werde man alt und strebe, das sei doch Scheiße, oder?, ja. Darüber habe er bei Nanette nachgedacht?, vor den Nutten?, ja, deshalb habe er geweint?, ja, und aus Mitleid für alle Bedürftigen, die Blinden, die Lahmen, für die Bettler, die am Jirón de la Unión um Almosen baten, und für die Zeitungsjungen, die La Cronica anboten, dumm nicht?, und für die armen Teufel, die einem auf der Plaza San Martín die Schuhe putzen, blöd was?, und wir, na klar, saudumm, aber jetzt habe er sich wieder gefangen, nicht? klar, habe es vergessen?, natürlich, dann lach mal, damit wir es glauben, haha. Fahr zu Pichulita, gib Gas, dreh auf, wie spät war es, wann begann die Show, wer wisse das, ob noch immer die Mulattin aus Kuba da war?, wie hieß die noch?, Ana, wie wurde sie genannt?, die Caimana, na los, Pichulita, zeig uns, dass du drüber weg bist, lach noch mal: haha.

Die Gruppensolidarität wird zum Gruppenzwang, hier sinnfällig im Lachzwang. Das Lachen drückt dabei keinen entspannten Humor aus, sondern eine aggressive, oberflächliche Haltung, das Leben als „Jux“ nehmen und „aufzudrehen“.2 Der leichtlebige Konformismus erweist sich als die Kehrseite des „barrio“, der Freundschaft und der bürgerlichen Gemeinschaft, was am Novellenschluss auf die Spitze getrieben wird, wenn der Unfalltod Cuellars zur Kleinigkeit im Nebensatz degradiert wird und Ehefrauen und Kinder als Statussymbole auf einer Stufe mit Autos stehen. Sprachlich untermalt wird die bürgerliche Banalität durch den häufigen Gebrauch von Diminutiven, welche nicht nur dem tatsächlichen Stil des peruanischen Spanisch entsprechen, sondern auch einer Haltung, die Dinge für kleiner und somit unbedeutender zu erachten, als sie sind.3

Die Oberflächlichkeit und Vergnügungssucht sind zwar mit der Männerwelt verknüpft, doch keineswegs auf diese beschränkt, denn auch die Mädchen im Barrio neigen dazu, wie die oben zitierte Unterhaltung zwischen Cuellar und Teresita schon zeigte und wie es dann der wohl raffiniertesten Szene dieser Erzählung abzulesen ist. Die Freunde suchen Cuéllars Angebetete auf, um herauszufinden, welche Gefühle sie für ihn hat, worauf sie sich wie folgt gibt:

Cuéllar?, hübsch saß sie auf ihrem Balkon, ihr sagt doch gar nicht Cuéllar zu ihm, sondern so ein hässliches Wort, schaukelte, damit das Laternenlicht auf ihre Beine fiel, er ist verrückt nach mir?, so recht ansehnliche dazu, woher wir das wüssten? Und Choto, tu nicht so, sie wisse es ebenso gut wie sie und die anderen Mädchen, ganz Miraflores rede davon, und sie, Augen, Mund, Näschen, wirklich?, als kämen sie von einem anderen Stern: hör ich zum ersten Mal. Und Mañuco, komm schon, Teresita, jetzt mal ehrlich, die Karten auf den Tisch, merke sie nicht, wie er sie anschaue? Und sie, o da da, klatschte, Händchen, Zähne, Sandalen, da, wir sollten schauen, ein Schmetterling!, sollten laufen, ihn fangen und bringen. Möglich, dass er sie anschaue, aber bloß als Freund, und außerdem, ach, wie hübsch, sie berührte die Flügel, Fingerchen, Nägel, Säuselstimme, ihr habt ihn umgebracht, armes Ding, habe er ihr nie etwas gesagt. Und wir, geschwindelt und gelogen, bestimmt habe er etwas gesagt und seien es Komplimente, und sie, nein, ehrlich, sie werde im Garten ein kleines Loch schaufeln und ihn begraben, Löckchen, Hals, zarte Ohren, niemals, das schwöre sie. Und Chingolo, merke sie nicht, wie er an ihr klebe?, und Teresita, möglich, dass er an ihr klebe, aber bloß als Freund, o da da, stampfte auf, Fäustchen, Flammenaugen, war ja gar nicht nicht tot gewesen, der Gauner, weg ist er!, Taille und Täubchenbrüste, dann habe er bestimmt ihre Hand genommen, nicht wahr?, oder es vielmehr versucht, nicht wahr?, da ist er, da drüben, wir sollten laufen, oder hab sich ihr erklärt, nicht wahr, und sollten ihn wieder fangen: er ist eben schüchtern, sagte Lalo, nimm ihn, aber vorsichtig, machst dich noch schmutzig, und weiß nicht, ob du ihn willst, Teresita, wolle sie ihn?, und sie, oje oje, Fältchen, krause Stirn, ihr habt ihn umgebracht und zerquetscht, ein Grübchen in den Wangen, Wimpern, Brauen, wen denn?, und wir, was heißt, wen, und sie, besser sie werfe ihn weg, zerquetscht, wie er war, wozu ihn begraben: kalte Schulter, Cuéllar? und Mañuco, ja, interessiere er sie?, sie wisse noch nicht, und Choto, dann gefalle er ihr also, Teresita, dann interessiere sie sich für ihn, und sie, das habe sie nicht gesagt, […] nein, keine faulen Tricks mit ihr, schaut mal, da glänze der Schmetterling zwischen den Geranien im Garten, oder war’s ein anderes Viech?, Fingerspitze, Fuß, weißer Absatz.

Die in dieses Gespräch eingeflochtene Begeisterung über einen Schmetterling – ein Paradebeispiel für Vargas Llosas „kommunizierende Röhren“– verleiht der Situation Vieldeutigkeit: Mit dem bunten Falter kann man Verspieltheit, Wechselhaftigkeit, aber auch Zartheit, Schönheit und Verletzlichkeit assoziieren und diese Eigenschaften auf Teresita beziehen, die von dem Schmetterling angezogen ist, oder aber auch auf Cuéllar, zumal an einigen Stellen die Rede über ihn oder den Schmetterling verwechselbar ist. Das Ansinnen, das Tierchen zu fangen, und der ungewisse Ausgang drängen sich überdies als Parallele zu der im Hintergrund stehenden Absicht auf, die beiden Jugendlichen in eine feste Beziehung zu bringen. 4

Die meisten Interpreten deuten Teresita so, dass sie nicht viel für Cuéllar empfindet, und das würde zur gleichnamigen Mädchenfigur in Der Stadt und die Hunde passen, deren Umgang mit Jungen opportunistisch scheint. Doch eindeutig ist das nicht. Eine andere Lesart wäre, dass sie, etwa als Beweis für die Echtheit seiner Gefühle, möchte, dass er sich ihr erklärt, ohne Vermittlung durch die Freude. Da die beiden in der Geschichte nicht zusammenkommen, wäre allerdings auch in diesem Fall eine pessimistische Folgerung zu ziehen: Selbst die Liebe holt den verwundeten Außenseiter nicht in die Gesellschaft zurück.

  1. Die Idee, die Gemeinschaft als Chor zum Ausdruck zu bringen, kam Vargas Llosa nach eigenem Bekunden erst nach mehrfachen Entwürfen für diese Novelle. Allerdings ist sie schon in seinem Erstling Die Stadt und die Hunde präfiguriert, um die Bedeutung kindlich-jugendlicher Freundschaft wiederzugeben, und zwar als Alberto mit seinen Freunden zur Steilküste rennt, nachdem ihr Fußballspiel eine Fensterscheibe zu Bruch gehen ließ: „Das war immer der Augenblick, in dem Alberto, an der Spitze der Fliehenden und schon ziemlich atemlos, rief: ‚Zu den Klippen! Kommt, wir gehen zu den Klippen!‘ Und alle folgten ihm und schrien: ‚Ja, ja, zu den Klippen!‘ Und er vernahm um sich her das Keuchen seine Freunde, das unregelmäßige und röhrende Keuchen Plutos, das gleichmäßige und kurze Ticos, das immer weiter zurückbleibende des Säuglings, der der schlechteste Läufer war, das ruhige Atmen Emilios, der wie ein Athlet seine Kräfte methodisch einsetzte und nicht vergaß, durch die Nase ein- und den Mund auszuatmen, und neben ihm das Keuchen Pacos, Sorbrinos und all der anderem, ein dumpfes, vitales Geräusch, das ihn fast liebevoll umgab und ihm Kraft verlieh […]“ (SuH S. 72 f.). ↩︎
  2. Zu dieser ‚bissigen‘ Funktion des Lachens passt im Grunde genommen die parodistische Konzeption der Geschichte selbst, auf die Oviedo hinweist: die Entmannung in einem machistischen Milieu durch einen Hund mit dem biblischen Namen Judas. Vargas Llosa scheine jetzt „die komische Seite“ dieser Gesellschaft aufzeigen zu wollen, „die Grausamkeit läuft in groteske Heiterkeit aus. Das ist eine fast absolute Neuerung im bisherigen Werk von Vargas Llosa, das sich besonders durch das Fehlen von Humor (und durch das Fehlen von Gott) charakterisierte.“ Nachwort von José Miguel Oviedo. In: MVLL: Die jungen Hunde. Suhrkamp, 1991. ↩︎
  3. Roslyn M. Frank: El Estilo de „Los cachorros“. In Jose Miguel Oviedo (Hg.): Mario Vargas Llosa. El estcritor y la critica. 1981, S. 156-175. ↩︎
  4. Vgl. Frank a.a. O. 165 f. ↩︎